Der verbotene Fluss
geworden und tastete nervös nach ihrem Taschentuch. »Aber es ist nicht christlich, schlecht über Verstorbene zu sprechen«, sagte sie ausweichend.
»Verzeihen Sie, das war nicht meine Absicht.«
»Das glaube ich Ihnen.« Sie zögerte. »Im Grunde denken die meisten Leute in der Gegend so, nur spricht es niemand aus, um der Familie nicht noch weiteren Schmerz zu bereiten.«
Charlotte legte ihre Serviette beiseite und erhob sich. »Ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen und Ihre Hilfe, Mrs. Morton, und würde mich freuen, Sie bald wiederzusehen. Und richten Sie Ihrem Mann meine besten Grüße aus.«
Mrs. Morton holte das versprochene Buch, ließ vom Hausmädchen Hut und Mantel bringen und begleitete Charlotte zum Kaninchenstall. Bevor sie zu Emily traten, hielt die Pfarrersfrau Charlotte noch einmal zurück.
»Tun Sie, was Ihr Herz Ihnen sagt, Miss Pauly. Sie haben ein gutes Herz, es wird Ihnen den Weg weisen. Gott segne Sie.«
Emily verabschiedete sich von den Tieren, gab Mrs. Morton die Hand und knickste höflich, bevor sie das Pfarrhaus endgültig verließen.
Auf dem Heimweg ging Charlotte, während Emily noch begeistert von den Kaninchen schwatzte, unablässig ein Satz durch den Kopf: Im Grunde denken die meisten Leute in der Gegend so, nur spricht es niemand aus.
Ihr Verdacht hatte sich bestätigt. Lady Ellen Clayworth hatte sich vermutlich das Leben genommen. Das erklärte vieles, nicht zuletzt, warum ihr Mann die Erinnerung an sie unter einem Panzer des Schweigens begraben hatte. Doch es führte auch zu einer neuen, drängenden Frage: Was hatte sie zu diesem Schritt getrieben?
Charlotte sprang sofort aus dem Bett, als sie die aufgeregten Stimmen hörte, und lief mit verschlafenen Augen in den Flur hin unter. Susan, das Hausmädchen, stand aufgelöst mit Nora vor der Tür des Kinderzimmers.
»Ich … Ich wollte mir noch ein Glas Milch aus der Küche holen«, stammelte Susan. »Da habe ich sie gehört. Sie war schon draußen in der Einfahrt. Ich weiß nicht, wohin sie wollte, mitten in der Nacht … Es ist doch so kalt!«
»Emily hat versucht, aus dem Haus zu laufen«, sagte Nora. »Susan und ich haben sie nach oben gebracht. Sie hat sich gewehrt, da habe ich die Tür abgeschlossen.« Sie hielt den Schlüssel in die Höhe.
Drinnen herrschte tiefe Stille.
Charlotte schickte Susan mit einem Dank zurück ins Bett. »Sag den anderen, sie hat nur schlecht geträumt. Wir kümmern uns darum.«
Als Susan zögernd verschwunden war, schloss Nora auf und drückte vorsichtig die Klinke hinunter.
Emily hatte sich ans Kopfende des Bettes gepresst, die Augen weit aufgerissen und auf etwas gerichtet, das nur sie allein sehen konnte. Die Vorhänge bauschten sich im Wind, das Fenster war geöffnet.
Charlotte lief hin und schloss es energisch, während Nora wie erstarrt neben dem Bett stehen blieb und Emily wortlos anschaute.
»Was sieht sie?«
Charlotte drehte sich zu den beiden um. »Ich weiß es nicht.« Sie zog vorsichtig die Decke um Emilys Schultern, wagte aber nicht, sie aus ihrer Trance zu wecken.
»Sie war wieder da«, sagte das Mädchen plötzlich mit rauer Stimme. »Sie hat mich besucht.«
Charlotte und Nora sahen einander an. Ein Blick genügte, um sich zu verständigen.
Im Zimmer war es kalt, doch auf Emilys Stirn glänzten Schweißtropfen. »Sie hat mit mir gesprochen. Sie hat erzählt, wie eisig das Wasser war.«
Die Worte zogen Kreise wie ein Stein, der in einen Teich fällt, bis sie das ganze Zimmer erfüllten.
»Am Anfang war sie traurig, aber dann ist sie glücklich geworden. Sie will mich mitnehmen, hat sie gesagt. Ganz bald. Dann wird alles gut. Aber ich wollte jetzt schon mit.«
Charlotte wandte sich rasch an Nora: »Hol Sir Andrew.«
Das Kindermädchen schaute sie entsetzt an. »Mitten in der Nacht? Das kann ich nicht, Miss, das traue ich mich nicht.«
Charlotte schaute sie seufzend an. »Dann bleib bei Emily sitzen, und lass sie nicht aus den Augen. Ich bin gleich wieder da.«
Sie eilte in den Turm und holte einen Morgenrock, den sie im Gehen über ihr Nachthemd zog und zuknöpfte. Die Haare flocht sie rasch zu einem Zopf und warf ihn über die Schulter, während sie die Treppe hinuntereilte.
Sir Andrews Schlafzimmer lag neben der Bibliothek und ging zum Garten hinaus. Als sie mit pochendem Herzen vor der Tür stand, schoss ihr ein flüchtiger Gedanke durch den Kopf. Ob er im März schon hier unten geschlafen und deshalb nicht gehört hatte, wie seine Frau nachts das Haus
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