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Der verbotene Fluss

Der verbotene Fluss

Titel: Der verbotene Fluss Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanne Goga
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Die Gouvernante erwähnte doch, das Fenster sei nachts zweimal offen gewesen. Möglicherweise hat Emily es selbst geöffnet, ohne sich dessen bewusst zu sein. Gerade bei Kindern kommt so etwas nicht selten vor. Allerdings sollte man sie beobachten, da sich Schlafwandler bisweilen in Gefahr begeben.«
    Er stand auf und nahm ein Buch aus dem Regal, dessen dunkelblauer Ledereinband abgenutzt aussah, als gehörte das Werk zu seiner bevorzugten Lektüre.
    »Ich kann es dir für ein paar Tage überlassen. Darin findest du einiges über Somnambulismus, das deine Fragen vielleicht beantwortet.«
    Sir Andrew warf nur einen flüchtigen Blick auf das Buch und schaute dann unschlüssig auf seine Hände.
    »Was ist denn noch? Raus mit der Sprache«, sagte Fenwick, in dessen Stimme zum ersten Mal eine leichte Ungeduld mitschwang. »Mein Wartezimmer ist voll. Sonst müssen wir uns für den Abend verabreden und die Sache bei Brandy und Zigarren besprechen.«
    »Nein, nein, was du sagst, ist alles richtig und wäre eine plausible Erklärung. Aber es gibt noch etwas …« Sir Andrew biss sich auf die Unterlippe und schaute an die Decke. Würde er sich vor seinem Freund zum Narren machen, wenn er es erzählte? Doch dann schilderte er mit leiser Stimme, was Emily als Letztes gesagt hatte.
    Fenwick hob die Hand. »Augenblick, immer mit der Ruhe. Worauf willst du hinaus?«
    »Ich weiß es nicht, verdammt noch mal!« Er beugte sich vor, als fürchtete er, man könnte sie hören, obwohl die dicke Eichentür fest verschlossen war. »Es kam mir vor, als würde eine Verbindung zwischen Emily und ihrer Mutter bestehen. Als hätte sie ihr diese Dinge eingeflüstert.«
    »Sie kann es vom Personal erfahren haben, dem Pfarrer, was weiß ich von wem. Die Leute tratschen unweigerlich, wenn ein solches Unglück geschieht, und achten nicht immer darauf, wer mithört.«
    »Ich habe das gesamte Personal angewiesen, nicht mit Emily über ihre Mutter zu sprechen. Und hatte bisher nie Grund, an seiner Loyalität zu zweifeln.«
    Fenwick seufzte. »Du begibst dich auf gefährliches Terrain, das ist dir hoffentlich klar. Bei so etwas kann dir kein Arzt weiterhelfen.«
    Sir Andrew zuckte resigniert mit den Schultern. »Ich will dich nicht länger belästigen.« Doch etwas hielt ihn auf seinem Stuhl; es war, als zögen ihn die unausgesprochenen Gedanken wie ein schweres Gewicht nieder. »Als sie von ihrer Mutter sprach, klang es so lebendig, so unmittelbar, als hätte sie Ellens Tod selbst miterlebt.«
    Zum ersten Mal seit Monaten sprach er den Namen seiner Frau aus, der ihm wie ein Fremdwort über die Lippen ging. Er spürte, wie ihm die Röte in die Wangen stieg. Vermutlich ruinierte er gerade seine Freundschaft zu Fenwick und den Ruf, ein Mann von klarem Verstand zu sein. Er saß reglos da und vermochte nicht aufzublicken, weil er sich vor dem Mitleid in Fenwicks Augen fürchtete.
    Er hörte, wie sein Freund aufstand, in den Flur hinaustrat und mit der Empfangsdame sprach. »Noch zehn Minuten … Ja … Sonst muss sie später wiederkommen, es ist ein Notfall.«
    Die Tür wurde geschlossen, die Schritte näherten sich dem Schreibtisch. Der Ledersessel knarrte, als Fenwick sich hineinsetzte. »Du meinst, sie sieht Gespenster.«
    Sir Andrew schloss beschämt die Augen. Es klang genauso lächerlich, wie es sich in seinen Gedanken angehört hatte. Was hatte ihn dazu getrieben, die Grenzen der Vernunft so weit zu überschreiten? Am liebsten wäre er aufgestanden und gegangen, doch dann dachte er wieder an seine Tochter, wie sie im Bett saß, die Augen aufgerissen, als sähe sie Dinge, die allen außer ihr verborgen blieben.
    Fenwick stopfte die Pfeife und schaute ihn abwartend an.
    »Ich weiß nicht, ob es das richtige Wort ist, aber – es kommt mir beinahe so vor.«
    Der Arzt saß eine Minute lang schweigend da, den Blick auf seine Hände gerichtet, die flach auf der Tischplatte lagen. Dann schob er Sir Andrew auffordernd das Buch hin. »Lies darin. Vielleicht reicht es dir als Erklärung, das würde ich mir wünschen. Falls nicht …« Er griff nach einem Blatt Papier und seinem Stift und schrieb etwas auf. Dann reichte er seinem Freund den Zettel.
    »Wenn alles nicht hilft, versuche es dort. Manche halten sie für verrückt, aber das bezweifle ich. Sie sind Wissenschaftler mit Leib und Seele.«
    Sir Andrew nahm den Zettel entgegen. Sein Freund hatte ihm einen Namen und eine Adresse notiert:
    Dr. Henry Sidgwick
    Society for Psychical Research
    9, Buckingham

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