Der verbotene Garten
Tiertatzen, die eines Löwen oder Tigers vielleicht, denn meine Finger verschwanden in den mächtigen hölzernen Klauen. Dann zog ich eine Schublade auf und schaute hinein. Einige Federhalter rollten zur Seite, sie waren unter einem losen Stapel aus Briefen und Zetteln hervorgekommen. Zwischen den Papieren stach ein Streifen Stoff hervor, rosa, weich und hübsch. Ich zog ihn aus seinem Versteck und hielt ein breites Samtband mit einer groÃen Schleife in den Händen. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass sich Mrs. Wentworth so etwas ins Haar stecken würde: Dies war für Mädchen und nicht für Frauen gedacht. Vorsichtig strich ich über den Samt. Hatte Mr. Wentworth seine Frau schon in jungen Jahren gekannt? Oder hatten sie womöglich ein Kind gehabt, ein kleines Mädchen, das verstorben war? Jedenfalls hatte Mr. Wentworth das Band an einem sicheren Ort aufbewahrt, wo es den Blicken entzogen, jedoch nicht vergessen war. Ich legte es sorgfältig wieder zurück.
Auf seinem ausladenden Schreibtisch lagen mehrere Bücher, daneben stand ein groÃer vergilbter Globus. Ich drehte daran und las dabei die Titel auf den Buchrücken. Die Volksstämme dieser Welt , New York City für den Gentleman , Die Hexen von New York â¦
New York City für den Gentleman erschien mir merkwürdig. Das Buchinnere war geschunden, jede zweite Seite fehlte. Die Volksstämme war ein Album aus Kabinettkarten, vorwiegend von Frauen, mit bloÃer Brust und unglücklicher Miene. Ein rotes Bändchen lag zwischen den Seiten, es hatte auf das schützende Pergaminpapier vor den Bildern abgefärbt. Estelle Lavoraux hieà die junge Frau unter dem dünnen Blatt. Sie trug ein gewebtes Band um die Stirn, wirkte stolz und selbstbewusst, ihr Blick war drohend. Die fettigen Fingerabdrücke am Rand verrieten, dass Mr. Wentworth ihr Bild wohl am liebsten mochte.
Die Hexen von New York aber war das faszinierendste Buch. Es enthielt eine Liste mit Adressen von der Broome bis zur Nineteenth Street und war, nach eigener Aussage, ein verlässlicher Führer durch die Welt der Wahrsagerei. Ich legte es oben auf den Stapel, um später nachzuschauen, ob auch Mama darin stand.
Spätabends saà ich mit Nestor am Küchentisch, in unser Schreibritual vertieft. Ich schob meine jüngste Nachricht an Mama kurz zur Seite. »Wann kommt Mr. Wentworth endlich nach Hause?«
»Wann es ihm beliebt«, erwiderte Nestor und strich das nächste Papier glatt, die zweite Seite an Polly. »Warum fragen Sie?«
»Aus reiner Neugierde.«
Aber Nestor ahnte, dass hinter meiner Frage mehr stand. »Richten Sie Ihre Hoffnungen nicht auf den Mann der gnädigen Frau«, warnte er. »Das endet in einer bitteren Enttäuschung.«
Meine geliebte Polly, nun dauert es nicht mehr lang.
Höchstens noch ein Jahr, wenn überhaupt.
Der matte Blick, mit dem Mr. Wentworths Ebenbild in die Welt schaute, hatte mich hoffen lassen, dass es mir besser ginge, wenn er leibhaftig da wäre. Dass seine Heimkehr seine Frau befrieden, ihr Herz, auch mir gegenüber, milder stimmen würde.
AuÃerdem wusste ich nun um sein Interesse an der Wahrsagerei. Mama hatte denen, die ihren Rat suchten, oft gesagt, dass sie schon allein dadurch für Verwünschungen und Zaubersprüche empfänglicher seien, weil sie an ihrem Tisch saÃen. »Wenn Sie sich mir öffnen, öffnen Sie sich damit allem«, hatte sie immer gesagt und dann angeboten, sich, zu einem angemessenen Preis natürlich, von dem Talisman an ihrem Hals zu trennen. »Er hilft gegen alles, vom Fluch bis zum bösen Blick.« In der oberen Schublade ihrer Kommode befand sich ein schier unerschöpflicher Vorrat an Talismanen, für ebendiese Fälle.
Ich hatte immer geglaubt, dass Mama diesen Humbug nur veranstaltete, um sich einen Penny dazuzuverdienen, doch die wachsende Zahl von Blutergüssen an meinen Armen und in meinem Gesicht lieà mich meine Meinung überdenken. Wenn Mr. Wentworth dem Mystischen und Fremden anhing, wäre er vielleicht mit Mamas Magie ein wenig früher heimzulocken. Ich schnitt eine Kette Wunschpuppen aus Mr. Wentworths Briefpapier und betete, dass Mamas Behauptung stimmte.
Am späten Vormittag, wenn Mrs. Wentworth die Post erwartete, lief sie den Teppich in ihrem Wohnraum beinah blank. Seit ich dieses Haus betreten hatte, war noch kein Brief von Mr. Wentworth eingetroffen, doch sein letztes
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