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Der verbotene Garten

Der verbotene Garten

Titel: Der verbotene Garten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ami McKay
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großzügig, ganz gleich, ob sie einander sonst nichts gönnten. Eben noch Freunde, nun Feinde, das machte keinen Unterschied.
    Nestor gab alles, um mir das Leben erträglich zu gestalten. Wir sprachen nie über Mrs. Wentworths Grausamkeit, nie über das, was sie mir hinter verschlossenen Türen antat. Doch wenn sich Caroline schlafen gelegt hatte, verbrachten wir gemeinsame Stunden in der Küche, plünderten die Speisekammer und überboten uns mit »dem Schlimmsten« – welches war der schlimmste Kampf, in den er je geraten war, welches das schlimmste Ding, das ich je in einer stinkenden Mülltonne entdeckt hatte?
    Nestor, so erfuhr ich, war in Londons East End aufgewachsen, in der Old Nichol Street, einem Ort, an dem die Ratten besser als die Menschen speisten und dessen Beschreibung nach der Chrystie Street klang. Nestor war nur deshalb nicht in der Gosse gelandet, so wie die übrigen Old-Nichol-Burschen, weil er »eines Abends in der Kirche meiner geliebten Polly« begegnet war.
    Ihr richtiger Name lautete Paulette Saxby, und in Nestors Augen war sie die hübscheste und sanftmütigste Seele überhaupt. »Keine Ahnung, was sie in mir Scheusal sieht«, scherzte er gern. Dann erklang sein herzhaftes Lachen und verstummte genauso rasch auch wieder, wenn ihn die Erinnerung packte.
    Nestor hatte sich schon kurz nach ihrer ersten Begegnung entschieden, den Atlantik gen Amerika zu überqueren. In New York und weiter westwärts, so war ihm zu Ohren gekommen, warteten sagenhafte Reichtümer, und sein Aufbruch dorthin, so hatte er Polly überzeugt, bot die größte Aussicht auf ein neues, gemeinsames Leben. Natürlich widerstrebte es ihm, sie zurückzulassen, doch sie war im Schoß ihrer Familie so lange gut aufgehoben, bis er einen Ort fand, der ganz ihnen gehörte.
    Er schrieb ihr beinah jeden Abend, und am nächsten Morgen versandte er den Brief per Post. Eines Tages hole ich dich zu mir, mein Liebes. Und bis dahin, während ich dir schreibe, auf dich warte, wärmen Gedanken an dich mir Leib und Seele.
    Lesen konnte ich schon sehr früh. Erst hatte ich die Worte entziffert, die Mama auf ihre Schilder schrieb, dann, wenn sie mir Anzeigen aus der Zeitung vorlas, immer weitere. Sie war mit dem Finger unter den Zeilen entlanggefahren und hatte vor sich hingemurmelt – außergewöhnlich, rein, blütenweiß, gut, süß, wunderbar! Bald kannte ich alle Worte, die auf Plakaten und an Häuserwänden standen oder mit Seife und Gebackenem zu tun hatten, doch ich hatte nie gelernt, die Feder auch zu führen. Das Einzige, was ich je geschrieben hatte, war mein Name. Mit einem Stock hatte ich die Linien und Umrisse von M-O-T-H in den Matsch gekratzt, neben ein Hüpfspiel, rechts neben die nummerierten Kästchen. Mein O hatte sich seltsam unbeholfen zu Eliza Adlers anmutig schwungvollen Buchstaben hin geneigt, die in den Bogen Himmel schrieben.
    Manchmal hatte Mama eine der Frauen, die ihre Zukunft wissen wollten, gebeten, etwas auf einen Zettel zu schreiben. Gewöhnlich war es der Name eines Mannes, dessen Gefühle umgestimmt werden sollten, der dieser Frau Geld schuldete oder ein Unrecht angetan hatte. Die Zettelchen, die Mama bei solchen Ritualen brauchte, waren so winzig, dass man sie in einer Taschenuhr verstecken, oder, falls ein Mann vergessen werden musste, in einer Kerzenflamme verbrennen konnte.
    Feder und Tusche waren ein Luxus, den Mama selbst vor mir in einer alten hölzernen Teedose verbarg – einer ihrer Feuerschätze, intakt mit Schloss, doch ohne Schlüssel. Wenn Mama die Dose öffnen wollte, steckte sie eine gebogene Hutnadel in das Schlüsselloch und ruckelte vorsichtig, bis das Schloss aufschnappte. Zwischen dem Fässchen und den Federn lagen drei kleine Papierrollen, die sie aus den Seitenrändern des Evening Star geschnitten und sorgfältig um leere Fadenspulen gewickelt hatte. Das zarte, cremefarbene Papier mit seinem (fast) gleichmäßigen Wellenrand war beinah so hübsch wie Zierband.
    Die Bögen, auf denen Nestor seiner Polly schrieb, stammten von Mr. Wentworth. Es waren perfekt beschnittene Rechtecke, in die oben ein stolzes, mächtiges W eingeprägt war, dasselbe zierte auch die Laschen der Briefumschläge. Ich konnte kaum glauben, dass ein Brief den weiten Weg bis nach London fand, doch Nestor versicherte mir, dass schon sehr viel geringeres Papier in beide Richtungen

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