Der verbotene Garten
nicht.«
»Hattest du schon deine erste Blutung?«
»Nein.«
»Du hast noch nie bei einem Mann gelegen? Bist niemals gezwungen oder verführt worden?«
»Nein.«
»Aber du verstehst, was das heiÃt, und auch, was Miss Everett von dir erwartet?«
Die Vorstellung, mit einem Mann zusammen zu sein, machte mir Angst. Obwohl ich Mama damals mit Mr. Cowan beobachtet hatte, hatte sie selbst mir wenig erklärt. Sie hielt es für das Beste, wenn ein Mädchen beim ersten Mal unwissend war.
»Verstehst du das?«, wiederholte der Doktor.
»Ja.«
Was ich mit Sicherheit wusste, war: So wie der Armreif, den ich Mrs. Wentworth gestohlen hatte, war auch meine Tugend ein gefährdetes Gut, besonders auf der StraÃe. Es war mir ganz deutlich geworden in jenem Moment, als Mr. Cowan seine Hände an mich gelegt und gierig und heià an meine Wange geatmet hatte. Dass ich meine Unschuld verlieren würde, war unvermeidlich, doch unter Miss Everetts Dach hoffte ich, dafür wenigstens einen angemessenen Preis zu erzielen.
Der Doktor legte das Buch beiseite und sagte: »Wenn du nirgendwo Obdach findest â es gibt ein Mädchenheim, drüben am St. Markâs Place.«
»Das kenne ich.«
»Ich helfe dir gern, dort unterzukommen.«
»Nein, danke, alles bestens«, beharrte ich.
Der Doktor seufzte. »Die Nächte werden kühler, und die Betten werden knapper. Du bekämst jeden Abend eine heiÃe Mahlzeit und tagsüber Unterricht in Lesen, Rechnen und Nähen.«
»Ich kann bereits lesen. Ich bleibe hier.«
Dr. Sadies Augen wanderten über mein Gesicht. »Du hattest erst neulich Blutergüsse am Auge. Hat dich jemand misshandelt?«
Wie eine Zigeunerin, wie eine Hexe, wie Mama, hatte sie einen Blick für alles, was man vergessen wollte. Ich wandte mich ab, gab keine einzige Antwort mehr. Schweigend blieb ich sitzen, bis sie endlich ging.
14. Oktober 1871 ⢠THE EVENING STAR
FRAU DOKTOR VON DER BOWERY
Von DANIEL CHARLES ,
exklusiv für den Evening Star
M eine erste Begegnung mit der jungen Ãrztin erfolgte bei einer Soirée im Hause unseres hochverehrten Thaddeus Dink. Von meinem Platz aus beobachtete ich eine mir unbekannte anmutige junge Frau, die ein seltsames Verhalten auf sich zog. Die anderen anwesenden Damen lächelten ihr kurz und höflich zu, um sich gleich wieder in ein Gespräch über das Dekor ihres Porzellans und die neueste Garderobe von Miss Demorest zu vertiefen. Die Fremde schien eine solche Paria zu sein, dass, wäre sie nicht so keusch und geschmackvoll gekleidet gewesen, ich sie für die Kurtisane eines bekannten Herrn hätte halten müssen. Natürlich hatte sie mich vom ersten Augenblick an gefesselt.
Sie ist eine wahre Ausnahmeerscheinung, wenn sie als Frau mit der Medizin einer ernsthaften Arbeit nachgeht, und dies in einer Gesellschaft, in der es viele vorzögen, sie nicht mehr zu sehen. Als unweiblich wurde sie schon mehrfach bezeichnet, manche versteigen sich gar zu der ÃuÃerung, sie sei eine Art Monster. Doch sie geht unbeirrt ihren Weg. Um ihre Anonymität zu wahren, will ich sie hier nur »Doktor S.« nennen.
Jedem, der ihre Bekanntschaft macht, wird auffallen, dass sie aus gutem Hause stammt. Sie ist von kultivierter Schönheit, zierlicher Statur und dennoch groÃer Entschlossenheit. Wieso diese Frau noch niemand vom Fleck weg geheiratet hat, ist mir ein Rätsel. Sie selbst gab auf meine Frage, warum sie die Medizin der Ehe vorziehe, folgende Antwort:
»Mein Herz gehört der Medizin. Ein Mann käme immer an zweiter Stelle. Das möchte ich niemandem zumuten.«
Sie hat sich so entschieden
Während ihrer Studien an der Medizinischen Hochschule für Frauen des Spitals der Stadt New York für Bedürftige Frauen und Kinder und am renommierten Bellevue Kolleg für Medizin hat Dr. S. groÃes Mitgefühl für die weniger glücklichen Seelen unserer Stadt entwickelt. Obwohl sie als eine der Besten ihres Jahrgangs graduierte und eine Auszeichnung in Physiologie erhielt, entschloss sie sich, ihrem Beruf ausgerechnet in den verrufensten Vierteln dieser Stadt nachzugehen. »Ich habe vieles gesehen, was ich lieber vergessen würde«, gestand sie mir und hielt inne, aus Angst, die allgemeine Schicklichkeit zu verletzen. »Doch ich führe mein Werk fort.«
16. Oktober 1871
Die üblichen Visiten in den Freudenhäusern. (Zwei
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