Der verbotene Garten
Dr. Sadies Visite. Unsere erste Begegnung lag nun über eine Woche zurück, und ihr Gesichtsausdruck sprach Bände. Es war mir eine groÃe Befriedigung, dass sie bei meinem Anblick nach Luft schnappte und mich bei jedem ihrer Schritte ansah.
Sie stellte ihre Arzttasche neben mich und sagte: »Miss Fenwick, ich erkenne Sie kaum wieder!«
Auch diesmal trug sie das elegante, aber schlichte Kleid, und auch diesmal verfuhr sie wie bei ihrer ersten Untersuchung. Sie wusch sich die Hände, legte sich die Schürze an, sah in meinen Mund und sagte »weit aufmachen«. Nur bat sie mich diesmal nicht, die Beine zu spreizen.
Sie hatte etwas Sanftes an sich, doch man musste danach suchen. Sie trug diskrete Perlen in den Ohren, das Haar war zu einem ordentlichen, perfekten Chignon gesteckt. Sie legte offensichtlich groÃen Wert auf ihr ÃuÃeres, denn ihr Blick glitt, so wie es Frauen eben tun, immer wieder zu ihrem Bild in meinem Spiegel.
Als sie fertig war, setzte sie sich auf mein Bett, ihre maÃvolle Tournüre drückte sich ihr seltsam in den Rücken. »Und du willst immer noch die Pläne verfolgen, die Miss Everett mit dir hat?«, fragte sie mit gerunzelter Stirn.
»Ja«, erwiderte ich und wünschte, sie würde das Thema auf sich beruhen lassen.
»Falls dich irgendwelche Zweifel befallen â¦Â«
»Sicher nicht«, beharrte ich.
Dr. Sadie meinte es ja gut, doch solange sie nur ein Obdachlosenheim zu bieten hatte, sollte es sie nicht verwundern, wenn ich ihren Vorschlag abwies. Den ganzen Tag lang in einer Fabrik oder über eine Nähmaschine gebeugt zu schuften, war wenig lockend.
Ich glättete eine Falte an meinem Rock und sagte: »Ich habe nicht den Wunsch, hier fortzugehen.«
»Die Hilfsgesellschaft für Kinder unterhält einen Waisenzug, der obdachlose Kinder zu Paaren bringt, die sich Familie wünschen«, fuhr sie fort und legte mir eine Hand aufs Knie. »Die meisten wollen einen gesunden, kräftigen Jungen, der auf der Farm mitarbeiten kann, aber manche sehnen sich auch nach einem Mädchen, um ihr Leben zu komplettieren. Ich könnte mich bei der Gesellschaft in deinem Sinne erkundigen«, sagte sie. »Ich kenne jemanden, der mit den Kindern im Zug mitfährt. Er würde sicherstellen, dass du ein gutes Zuhause findest.« Und bevor ich etwas einwenden konnte, ergänzte sie: »Vielleicht könnte man dich mit Alice gemeinsam unterbringen. Miss Everett erwähnte neulich, wie recht nahe ihr euch steht.«
Das stimmte. Je besser ich Alice kennenlernte, umso mehr wuchs sie mir ans Herz. Sie war freundlich, hatte immer ein Lächeln auf den Lippen und bot eine wunderbare Gesellschaft bei den Mahlzeiten und am Abend. Selbst wenn sie all diese Qualitäten nicht besessen hätte â ich sah auch, dass Miss Everett sie Mae gegenüber vorzog, und hielt es für das Beste, es ebenso zu tun.
»Alice möchte fort?«
»Ich bin mir nicht ganz sicher«, antwortete Dr. Sadie, stand auf, streifte die Schürze ab und faltete sie wieder in ihre Arzttasche. »Aber ich dachte, falls ihr beide es euch anders überlegt, lieÃe sich für euch beide auch ein besserer Ort finden.«
Bei der Vorstellung, New York zu verlassen, drehte sich mir der Magen um. Es war ein Segen, dass ich Mrs. Wentworth entkommen war, doch deshalb zog es mich noch lange nicht ins Niemandsland, zu endlosen einsamen Weiden. Für die meisten Städter bestand die Landbevölkerung aus tumben Hinterwäldlern, die sich von Mais und Dummheit ernährten und die man mühelos um ihr Geld und ihr Urteilsvermögen bringen konnte. So sah ich sie nicht. Für mich waren sie die schemenhaften Gestalten auf dem Gemälde in Miss Everetts Salon, stark genug, einen furchterregenden Pflug durch die Erde zu ziehen, und hart genug, die sengende Sonne zu ertragen.
»Ich danke Ihnen, aber es ist alles gut«, sagte ich zu Dr. Sadie. »Schlagen Sie es Alice ruhig vor, doch ich bin fest entschlossen.«
»Wie du willst«, sagte sie und wirkte ziemlich niedergeschlagen. Dann nahm sie ihre Tasche und verlieà den Raum.
Alice war an jenem Morgen ganz schrecklich unruhig, denn ihr stand die erste Verabredung zum Lunch bevor.
»Tee und Sandwiches im Salon, mehr ist es doch nicht«, sagte Mae angesichts der heftigen Röte, die Alice über den Hals kroch und drohte, ein Nesselausschlag zu werden. Schon beim Gedanken an die
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