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Der verbotene Ort

Titel: Der verbotene Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
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Seine Mitarbeiter sahen ihn besorgt an, so unnormal war es, dass Adamsberg erschlagen war und noch dazu saß. Aber er blieb auf diesem Stuhl sitzen, mit unbeweglichem Gesicht und dem unsteten Blick eines Menschen, der kein Verlangen hat, zu sehen, und in die Ferne schweift, damit auch nicht ein Splitter von Gesehenem sich in seinem Gedächtnis festsetzt. Er versuchte an die Zeit davor zu denken, als es erst sechs Uhr war, als er diesen blutbesudelten Raum noch nicht gesehen hatte. Als er sich nach dem Anruf von Lieutenant Justin hastig angezogen hatte, das weiße Hemd vom Vortag und den von Danglard geliehenen eleganten schwarzen Sakko, beide völlig unpassend für die Situation. Justins abgehackte Stimme verhieß nichts Gutes, es war die Stimme eines fassungslosen Menschen.
    »Wir holen alle Passerellen heraus«, hatte er hinzugefügt. Das waren die Plastikfliesen auf Füßen, die man über den Boden verteilte, um die Spuren nicht zu verwischen. »Alle Passerellen.« Was bedeutete, dass der gesamte Boden nicht begehbar zu sein schien. Adamsberg war in Eile aus dem Haus gegangen, hatte Lucio, den Schuppen, die Katze gemieden. Bis dahin ging alles gut, bis dahin hatte er noch nicht dieses große Zimmer betreten, saß er noch nicht auf diesem Stuhl im Angesicht blutiger Teppiche, die übersät waren mit Eingeweiden und Knochensplittern, zwischen vier Wänden, an denen organische Bestandteile klebten. Als wenn der Körper des alten Mannes explodiert wäre. Das Abstoßendste aber waren zweifellos die kleinen Fleischbrocken, die auf dem schwarzen Lack des Flügels lagen – wie Abfall auf dem Hackklotz eines Metzgers. Blut war auf die Tasten geflossen. Auch da fehlte einem das Wort, das Wort, um einen Menschen zu bezeichnen, der den Körper eines anderen Menschen in Fetzen reißt. Mörder war ein unzureichender und lächerlicher Begriff dafür.
     
    Beim Verlassen des Hauses hatte er noch die Nummer seines mächtigsten Lieutenants gewählt, Retancourt, die in seinen Augen fähig war, jedem Chaos der Schöpfung zu trotzen. Ja sogar es zu verhindern oder nach ihren Wünschen umzuleiten.
    »Retancourt, kommen Sie zu Justin, sie haben alle Passerellen rausgeholt. Ich weiß nicht, ein Einfamilienhaus in einer Privatstraße, bürgerliche Gegend in Garches, der Bewohner ein alter Mann, unbeschreibliche Szene. Der Stimme Justins nach zu urteilen, sieht es böse aus. Komm, so schnell du kannst.«
    Adamsberg wechselte bei Retancourt vom »Sie« zum »Du«, ohne dass es ihm bewusst war. Sie hieß mit Vornamen Violette, was für eine Frau von über einem Meter achtzig und hundertzehn Kilo ziemlich unpassend war. Adamsberg nannte sie bei ihrem Zunamen oder ihrem Vornamen oder ihrem Dienstgrad, je nachdem, was in dem Augenblick überwog, seine Achtung vor ihren rätselhaften Fähigkeiten oder seine zärtliche Dankbarkeit für die uneinnehmbare Zuflucht, die sie einem bot, wenn sie wollte, falls sie wollte. An diesem Morgen wartete er untätig auf sie, sich aus der Zeit ausklinkend, während seine Leute im Raum flüsterten und das Blut an den Wänden dunkel wurde. Vielleicht war ihr etwas über den Weg gelaufen und hatte sie aufgehalten. Er hörte ihren schweren Schritt, noch bevor er sie sah.
    »So eine verdammte Prozession hat den gesamten Boulevard verstopft«, brummelte Retancourt, die es gar nicht mochte, wenn man ihren Weg blockierte.
    Trotz ihres beträchtlichen Umfangs kam sie mühelos über die Fliesen gelaufen und nahm geräuschvoll neben ihm Platz. Adamsberg lächelte sie an. Wusste Retancourt, oder wusste sie nicht, dass sie für ihn ein freundlicher Baum war, mit hartschaligen, köstlichen Früchten, diese Art Baum, den man umschlingt und doch nicht umfassen kann, auf den man schnell hinaufklettert, wenn sich die Hölle auftut? In dessen hohem Geäst man seine Hütte baut? Genau so mächtig, schartig, undurchdringlich war sie, ein einziges großes Geheimnis. Ihr praktischer Blick streifte den Raum, Fußboden, Wände, Männer.
    »Ein Schlachthaus«, sagte sie. »Wo ist die Leiche?«
    »Überall, Lieutenant«, sagte Adamsberg, breitete die Arme aus und umschrieb mit einer Bewegung den ganzen Raum. »Zerstückelt, zerrieben, verstreut. Wo man auch hinschaut, sieht man den Körper. Und wenn man alles zusammen betrachtet, sieht man ihn nicht mehr. Es gibt hier nur ihn, und gleichzeitig ist er nicht da.«
    Retancourt nahm die Einzelheiten in Augenschein. Hier, da, dort, von einem Ende des Zimmers zum anderen lagen zermalmte

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