Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Der verbotene Ort

Titel: Der verbotene Ort Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Fred Vargas
Vom Netzwerk:
das ein ganz normaler Sarg? Ich meine, einfach aus Holz?«
    »Ja. Und die wundersame Konservierung von Elizabeth Siddal erregte ungeheures Aufsehen in England und darüber hinaus. Augenblicklich sah man darin das Zeichen der Entität, und man erklärte, dass sie vom Friedhof Besitz ergriffen habe. Zeremonien wurden abgehalten, man sah Erscheinungen, sang Beschwörungsgesänge für den Meister. Seit jenem Tag stand der Tunnel weit offen.«
    »Also kamen Leute rein.«
    »Viele, Tausende. Bis hin zu den beiden jungen Mädchen, denen man hinterherging.«
    Der Zug verlangsamte sein Tempo, je näher er der Gare du Nord kam. Adamsberg richtete sich auf, schüttelte seine zur Kugel zusammengerollte Jacke aus, strich sich mit der Hand durch die Haare.
    »Was hat der Kollege Stock mit dieser Geschichte zu tun?«, fragte er.
    »Radstock hat zu dem Polizeiaufgebot gehört, das vor Ort geschickt wurde, kaum dass man Wind bekam von der exorzistischen Sitzung. Er hat den unverwesten Körper gesehen, hat den Erleuchteten gehört, wie er den Vampir ansprach. Er war noch jung und, so vermute ich, leicht zu beeindrucken. Wenn er nun heute am gleichen Ort Füße von Toten stehen sieht, wird ihm das zutiefst missfallen. Denn es heißt, die Entität herrsche immer noch über Highgate.«
    »Wäre das die Opfergabe?«, fragte Estalère. »Ein Geschenk, das der Fußabschneider der Entität gemacht hätte?«
    »Das denkt Radstock. Er fürchtet, ein Verrückter könnte den Alptraum Highgate zu neuem Leben erwecken und damit die Macht seines schlafenden Meisters. Aber so weit reicht das zweifellos nicht. Der Fußabschneider will seine Sammlung loswerden, mag sein. Er kann so kostbare Objekte nicht auf den Müll schmeißen, wie auch ein Mensch sein Kinderspielzeug nicht einfach wegwirft. Er sucht einen würdigen Platz dafür.«
    »Und so wählt er einen Ort nach dem Maß seiner Wahnvorstellungen«, ergänzte Adamsberg. »Er wählt Higegatte, wo die Füße weiterleben können.«
    »Highgate«, korrigierte Danglard. »Was nicht zugleich bedeuten muss, dass der Fußabschneider an die Entität glaubt. Was zählt, ist der Charakter des Ortes. Doch wie dem auch sei, das alles spielt sich auf der anderen Seite des Ärmelkanals ab und ist damit weit von uns entfernt.«
    Man fuhr in den Bahnhof ein, der Zug bremste, Danglard packte entschlossen seinen Koffer, wie um durch eine sehr reale Geste die Benommenheit abzuschütteln, in die seine Geschichte sie getaucht hatte.
    »Aber wenn man etwas in dieser Art gesehen hat, Danglard«, sagte Adamsberg sanft, »löst ein kleines Stück sich davon ab und bleibt immer in uns zurück. Alles sehr Schöne oder sehr Hässliche hinterlässt einen Splitter in den Augen derer, die es betrachtet haben. Das weiß man. Daran übrigens erkennt man es auch.«
    »Was?«, fragte Estalère.
    »Das, was ich gesagt habe. Das besonders Schöne oder das furchtbar Hässliche. Man erkennt es an dieser Erschütterung, an diesem Quäntchen, das in uns bleibt.«
    Während sie den Bahnsteig hinaufgingen, berührte Estalère den Kommissar an der Schulter. Danglard hatte sie eilig verlassen, als wenn er bedauerte, zu viel gesagt zu haben.
    »Und diese kleinen Splitter von Dingen, die man gesehen hat, was macht man damit?«
    »Man räumt sie weg, man legt sie, sternförmig angeordnet, in einen großen Karton, den man das Gedächtnis nennt.«
    »Und wegwerfen kann man sie nicht?«
    »Nein, das ist unmöglich. Das Gedächtnis hat keinen Mülleimer.«
    »Was muss man also tun, wenn man sie nicht haben will?«
    »Entweder du lauerst ihnen auf und tötest sie, wie Danglard das macht, oder du beachtest sie nicht.«
     
    In der Metro fragte sich Adamsberg, an welcher Stelle seines Gedächtnisses die grausigen Füße von London sich unterbringen lassen würden, in welchem Sternzacken, und wie viel Zeit vergehen würde, bevor er so tun könnte, als hätte er sie vergessen. Und wo würde der aufgegessene Schrank seinen Platz finden, und der Bär, und der Onkel, und die beiden jungen Mädchen, die die »Entität« gesehen hatten und wieder zu ihr hinwollten? Und was war aus der einen geworden, die dann allein zur Gruft ging? Und aus dem Erleuchteten? Adamsberg rieb sich die Augen, verlockt von dem Gedanken an eine lange Nacht Schlaf. Zehn volle Stunden, warum nicht. Nur sechs davon sollte er wirklich schlafen dürfen.

6
     
    Wie erschlagen saß der Kommissar auf einem Stuhl um sieben Uhr dreißig am Morgen und betrachtete die Szene des Verbrechens.

Weitere Kostenlose Bücher