Der verbotene Turm
Treppe unter seinen Füßen sehen, aber er ging in einer Gräue, die seinen Körper verschwinden ließ. Die Gräue verdunkelte sich zu einer Schwärze, durch die im Zickzack blaue Lichter rasten.
Die Ebene der Energienetze. Damon hatte als Psi-Techniker auf dieser Ebene gearbeitet. Er nahm alle Kraft zusammen, und es gelang ihm, sich zu verfestigen. Aus der Schwärze schuf er eine dunkle Höhle mit schmalen, beleuchteten Pfaden und Fußwegen, die durch einen Irrgarten fallenden Wassers nach oben führten, Leonie war hier undeutlich und schattenhaft, ihre Robe farblos. Er empfing ihre wortlose Warnung:
Geh vorsichtig. Wir sind auf der Ebene der überwachten Matrices. Sie werden uns beobachten, damit mir kein Leid geschieht. Aber halte dich hinter mir. Ich weiß, wo Matrix-Arbeit getan wird und wir nicht eindringen dürfen . Schweigend schritt Damon auf den blau erleuchteten Pfaden weiter. Einmal kam es zu einer Explosion blauen Lichtes, und Leonie sandte ihm die dringende Warnung zu:
Wende dich davon ab!
Und er erkannte, daß irgendwo eine Matrix-Operation durchgeführt wurde, eine von so delikater Natur, daß selbst ein zufälliger Gedanke – ein »Ansehen« – sie aus dem Gleichgewicht werfen und die Mechaniker in Gefahr bringen konnte. Damon visualisierte, daß er sich körperlich von dem Licht abwandte und die Augen ganz fest schloß, damit er nicht einmal durch die Wimpern etwas erspähte. Lange Zeit schien zu vergehen, bis Leonies gedankliche Berührung ihm sagte:
Wir können ohne Gefahr weitergehen .
Wieder bildete sich die Treppe unter seinen Füßen, auch wenn er sie nicht sehen konnte, und er stieg hinauf. Nur volle Konzentration brachte jetzt noch die Illusion eines Körpers hervor, der hinaufstieg, Stufe um Stufe nahm, und die Stufen waren wie Nebel unter seinen Füßen. Sein Puls schlug hart, während er sich nach oben kämpfte, und sein Atem ging mühsam. Es war wie das Ersteigen der steilen Felsentreppe, die zum Nevarsin-Kloster hinaufführte. Damon tastete in der undurchdringlichen Dunkelheit nach dem eisüberzogenen Geländer. Es verbrannte ihm die Finger, aber er war dankbar für das Gefühl. Es half ihm, die schreckliche, chaotische Formlosigkeit dieser Ebene zu verfestigen. Er hatte keine Ahnung, wie Leonie, die nicht im Bergsteigen geübt war, hier zurechtkam. Er spürte sie in seiner Nähe und dachte sich, daß sie ihre eigenen mentalen Techniken haben mußte, um die Steigung zu bezwingen. Damon bekam nur noch schwer Luft, und sein Herz quälte sich von einem Schlag zum anderen. Schwindel packte ihn beim Gedanken an die grauenhafte Kluft unter ihm. Er konnte sich nicht zwingen weiterzugehen. Er klammerte sich an das Geländer, und die Kälte machte seine Hände gefühllos.
Ich kann nicht weiter. Ich kann nicht. Ich will hier sterben .
Langsam wurde ihm das Atmen leichter, beruhigte sich sein arbeitendes Herz. Am äußersten Rand seines Bewußtseins tauchte der Gedanke auf, daß Callista mit ihm in Phase gegangen war und sein Herz und seine Atmung regulierte. Jetzt konnte er sich weiter nach oben kämpfen, obwohl die Treppe verschwunden war. Als die Vorstellung, er habe einen Berg zu bezwingen, immer stärker in ihm wurde, rief er sich verzweifelt die Techniken des Aufstiegs in Fels und Eis ins Gedächtnis zurück, die er als Junge in Nevarsin gelernt hatte. Er setzte Hände und Füße in grob eingehauene Löcher und zog sich weiter, er stellte sich Seile und Pickel vor, die ihm halfen, seinen widerstrebenden Körper nach oben zu befördern. Dann verlor er seinen Körper von neuem und mit ihm jede Spur einer Gestaltung. Mit grimmiger Konzentration bewegte er sich nur noch von Dunkelheit zu Dunkelheit. In einer davon waren seltsame, formlose Wolkenmassen, und er schien durch Sümpfe aus kaltem Schleim zu waten. In einer anderen waren überall Präsenzen, die sich an ihn drängten, die körperlos gegen ihn stießen … Sogar das Konzept der Form war verloren gegangen. Er konnte sich nicht erinnern, was ein Körper war oder wie es sich anfühlte, einen zu besitzen. Er war ebenso formlos, so überall und nirgends wie sie , was sie auch sein mochten, die alles durchdrangen. Er fühlte sich krank und vergewaltigt, aber er kämpfte sich weiter, und nach Ewigkeiten war auch dies vorbei.
Endlich erreichten sie eine merkwürdige, dünne Dunkelheit, und Leonie, dicht neben ihm im Nichts, sagte, jedoch nicht mit Worten:
Dies ist die Ebene, wo wir uns von der linearen Zeit loslösen können.
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