Der verbotene Turm
spürte sie seine plötzliche Einsamkeit.
Andrew dachte, in so etwas müsse man eben von Kind auf hineingewachsen sein. Ellemirs angespanntes Schweigen legte er als Scham oder Reue über das Geschehen aus, und er fragte sich, ob er sich irgendwie entschuldigen solle. Für was? Bei wem? Ellemir? Damon? Er sah Callista in Damons Armen liegen. Wie konnte er dagegen Einspruch erheben? Gleiches Recht für alle, sagte er sich, und trotzdem wurde ihm bei dem Anblick beinahe übel. Oder lag es nur daran, daß er gestern Abend zu viel getrunken hatte?
Damon bemerkte, daß Andrews Blick auf ihnen ruhte, und lächelte.
»Ich vermute, Dom Esteban hat heute Morgen einen schwereren Kopf als ich. Den meinen werde ich unter kaltes Wasser halten, und dann gehe ich hinunter und sehe nach, ob ich etwas für unsern Vater tun kann. Ich bringe es nicht übers Herz, ihn heute seinem Leibdiener zu überlassen.« Ohne Hast löste er sich aus Callistas Armen und setzte hinzu: »Habt ihr Terraner einen passenden Ausdruck für den Morgen nach dem Abend vorher?«
»Dutzende«, antwortete Andrew finster, »und jeder ist so abstoßend wie die Sache selbst.« Wir sind alle verkatert, dachte er.
Damon ging ins Bad. Andrew stand da, fuhr sich mit einem Kamm durchs Haar und blickte düster auf Callista nieder. Er merkte nicht einmal, daß ihre Augen rot waren. Langsam stieg sie aus dem Bett und zog ihren geblümten Morgenmantel an. »Ich muß Ellemir helfen. Die Mädchen werden kaum wissen, wo sie anfangen sollen. Warum starrst du mich so an, mein Gatte?«
Der Ausdruck erweckte seine Streitlust. »Du willst mich nicht einmal deine Fingerspitzen berühren lassen, und wenn ich dich küsse, zuckst du zurück, als wolle ich dich vergewaltigen, aber du liegst in Damons Armen …«
Callista senkte die Augen. »Du weißt, warum ich es wage … bei ihm.«
Andrew erinnerte sich an das intensive sexuelle Gefühl, das er an Damon wahrgenommen, mit ihm geteilt hatte. Das war beunruhigend und überflutete ihn mit vagem Unbehagen. »Du kannst nicht behaupten, Damon sei kein Mann!«
»Natürlich ist er ein Mann«, erwiderte Callista. »Aber er hat gelernt – und in der gleichen harten Schule wie ich –, wann und wie er nicht als Mann zu reagieren hat.«
Andrew in seiner schuldbewußten Überempfindlichkeit faßte das als Hohn auf, als sei er nur ein Tier, das sein sexuelles Verlangen nicht zu beherrschen vermochte. Sie hatte ihn buchstäblich in Ellemirs Arme geschoben, aber Damon brauchte solche Zugeständnisse nicht. In plötzlicher Wut riß er Callista an sich und preßte seinen Mund auf ihren. Einen Augenblick lang wehrte sie sich und wollte sich losreißen, und er spürte den wilden Aufruhr in ihr. Dann wurde sie völlig passiv in seinen Armen. Ihre Lippen waren kalt und tot, und sie war so weit weg, daß sie ebenso gut in einem anderen Zimmer hätte sein können. Ihre leise Stimme schlug in ihn ein wie Fänge.
»Alles, was du glaubst, tun zu müssen, kann ich ertragen. Wie ich jetzt bin, bedeutet es keinen Unterschied für mich. Es wird mir weder Schaden tun noch mich bis zu dem Punkt erregen, wo ich dich mit einer Energieentladung treffen könnte. Selbst wenn du meinst … du mußt mit mir ins Bett gehen … würde es mir gar nichts bedeuten. Aber wenn du daran Vergnügen hast …«
Eiskaltes Entsetzen ging ihm durch Mark und Bein. Irgendwie war das schrecklicher, als hätte sie sich mit Zähnen und Fingernägeln gegen ihn gewehrt und ihn wieder mit einem Blitz geschlagen. Das erste Mal hatte sie ihr eigenes Verlangen gefürchtet. Jetzt wußte sie, daß nichts ihre Verteidigung durchbrechen konnte … nichts.
»Oh, Callista, verzeih mir! O Gott, Callista, verzeih mir!« Er fiel vor ihr auf die Knie, ergriff ihre schmalen Hände und zog ihre Fingerspitzen in qualvoller Reue an seine Lippen. Damon kam aus dem Bad zurück und blieb bei dem Anblick wie versteinert stehen, aber Andrew und Callista sahen und hörten ihn nicht. Langsam legte Callista ihre Hände an Andrews Wangen. Sie flüsterte: »Oh, mein Liebster, ich bin es, die dich um Verzeihung bitten sollte. Ich will … ich will doch nicht gleichgültig gegen dich sein.« Ihre Stimme war so von Leid durchtränkt, daß Damon erkannte, er durfte nicht länger warten.
Er wußte sehr wohl, warum er sich gestern Abend betrunken hatte. Sobald Mittwinter vorbei war, konnte er die furchtbare Aufgabe nicht mehr aufschieben. Jetzt mußte er in die Überwelt, in die Zeit selbst gehen und dort nach
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