Der verbotene Turm
Dom , ist es, Euch die eigene Kraft zu bewahren, bis dieser Junge zum Mann herangewachsen ist. Wollt Ihr Euren lebenden Sohn vaterlos machen, um dem Toten die letzte Ehre zu erweisen?«
So ungern Dom Esteban sich das sagen ließ, es gab darauf nichts zu erwidern. Verärgert hatte er Meister Nicol erlaubt, ihn wieder ins Bett zu schaffen. Er hielt Dezis Hand fest, und der Junge blieb gehorsam an seiner Seite.
Jetzt, auf dem Ritt nordwärts nach Hali, erinnerte sich Andrew an die Kondolenzbesuche, die langen Gespräche mit anderen Ratsmitgliedern, die Lord Altons Kräfte bis zum Äußersten beansprucht hatten. Würde er, selbst wenn er das kommende Ratstreffen und die Heimreise überstand, am Leben bleiben, bis Valdir mit fünfzehn zum Mann erklärt wurde? Und wie konnte sich ein fünfzehnjähriger Junge in den komplizierten politischen Intrigen der Domäne zurechtfinden? Zumal wenn er ein behüteter, gelehrtenhafter Junge aus einem Kloster war!
Valdir ritt an der Spitze der Prozession in düsterer Trauerkleidung, gegen die sein bleiches Gesicht abstach. An seiner Seite hielt sich sein geschworener Freund Valentine Aillard, der mit ihm von Nevarsin gekommen war, ein großer, kräftiger Junge mit so blondem Haar, daß es weiß wirkte. Beide blickten feierlich drein, aber nicht von Trauer überwältigt. Dafür hatten sie Domenic nicht gut genug gekannt.
Am Ufer des Sees von Hali, wo nach der Legende Hastur, Sohn des Lichts, Darkover zum ersten Mal betreten hatte, wurde Domenic, wie es der Brauch verlangte, in ein nicht gekennzeichnetes Grab gelegt. Als sie an dem offenen Grab standen, stützte Callista sich schwer auf Andrew, und er fing ihren Gedanken auf: Es kommt nicht darauf an, wo er liegt, er ist an einen anderen Ort gegangen. Aber für meinen Vater wäre es ein Trost gewesen, hätte er in der Erde von Armida ruhen können .
Andrew sah sich auf dem Begräbnisplatz um und erschauerte. Hier unter seinen Füßen lag alles, was an zahllosen Generationen von Comyn sterblich war, ohne daß ein anderes Zeichen davon Kunde gab als die unregelmäßigen Bodenverwerfungen, die der Schnee des Winters und das Tauwetter des Frühlings erzeugt hatten. Würden seine eigenen Söhne und Töchter eines Tages hier liegen? Würde er selbst eines Tages hier, unter der fremden Sonne ruhen?
Valdir trat als nächster Verwandter als Erster ans Grab. Seine Stimme klang hoch und kindlich, und er sprach stockend.
»Als ich fünf Jahre alt war, hob mein Bruder Domenic mich von meinem Pony und sagte, ich solle ein Pferd bekommen, das für einen Mann geeignet sei. Er nahm mich mit in die Ställe und half dem Coridom , ein sanftes Pferd für mich auszusuchen. Möge diese Erinnerung das Leid mildern.«
Er trat zurück, und Valentine Aillard nahm seinen Platz ein. »In meinem ersten Jahr in Nevarsin war ich einsam und elend, wie es allen Jungen ging, doch mir besonders, weil ich weder Vater noch Mutter mehr hatte und meine Schwester an einem weit entfernten Ort aufwuchs. Domenic kam Valdir besuchen. Er nahm mich mit in die Stadt und kaufte mir Süßigkeiten, damit auch ich das hätte, was die anderen Jungen nach einem Besuch von Verwandten hatten. Wenn er Valdir zum Mittwinterfest Geschenke schickte, legte er für mich eins bei. Möge diese Erinnerung das Leid mildern.«
Einer nach dem anderen traten die Teilnehmer an der Beerdigung vor und sprachen zum Lobe dessen, der in seinem Grab lag. Cathal Lindir mußte erst sein Schluchzen unterdrücken, und dann stieß er nur hervor: »Wir waren Bredin , ich liebte ihn.« Er trat zurück und versteckte sich in der Menge, unfähig, auch nur die rituellen Worte zu sprechen. Callista, die nach ihm an der Reihe war, sagte: »Er war der Einzige in meiner Familie, für den ich nicht … nicht fremd und abgesondert war. Selbst als ich in Arilinn lebte und alle meine anderen Verwandten mich als Fremde behandelten, blieb Domenic zu mir immer der Gleiche. Möge diese Erinnerung das Leid mildern.« Sie wünschte, Ellemir sei hier, um die Reden zu Ehren ihres Lieblingsbruders zu hören. Aber Ellemir hatte sich entschlossen, bei ihrem Vater zu bleiben. Domenic, hatte sie gesagt, könne nicht mehr geholfen und nicht mehr geschadet werden, aber ihr Vater brauche sie.
Dann trat auch Andrew ans Grab. »Ich kam als Fremder nach Armida. Er stand bei meiner Hochzeit neben mir, weil ich keinen Verwandten an meiner Seite hatte.« Als er mit »Möge diese Erinnerung das Leid mildern« endete, war er traurig darüber,
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