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Der Verdacht

Der Verdacht

Titel: Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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Hungertobel, es mache alles diesen Ein druck. Er habe den ganzen Morgen umsonst versucht, ihn wach zu bekommen.
    Das tue ihm aber leid, bedauerte der Kommissär.
    «Es ist praktisch einfach unmöglich, daß du Alkohol getrunken hast, du müßtest denn auch die Flasche verschluckt haben!» rief der Arzt verzweifelt aus.
    Das glaube er auch, schmunzelte der Alte.
    Er stehe vor einem Rätsel, sagte Hungertobel und putzte sich die Brille. Das tat er, wenn er aufgeregt war.
    Lieber Samuel, sagte der Kommissär, es sei wohl nicht immer leicht, einen Kriminalisten zu beherbergen, das gebe er zu, den Verdacht, ein heimlicher Süffel zu sein, müsse er durchaus auf sich nehmen, und er bitte ihn nur, die Klinik Sonnenstein in Zürich anzurufen und Bärlach unter dem Namen Blaise Kramer als frischoperierten, bettlägerigen, aber reichen Patienten anzumelden.
    «Du willst zu Emmenberger?» fragte Hungertobel bestürzt und setzte sich. «Natürlich», antwortete Bärlach.
    «Hans», sagte Hungertobel, «ich verstehe dich nicht. Nehle ist tot.»
    «Ein Nehle ist tot», verbesserte der Alte. «Wir müssen jetzt feststellen, welcher.»
    «Um Gottes willen», fragte der Arzt atemlos: «Gibt es denn zwei Nehle?»
    Bärlach nahm die Akten zur Hand. «Betrachten wir zusammen den Fall», fuhr er ruhig fort, «und untersuchen wir, was uns dabei auffällt. Du wirst sehen, unsere Kunst setzt sich aus etwas Mathematik zusammen und aus sehr viel Phantasie.»
    Er verstehe nichts, stöhnte Hungertobel, den ganzen Morgen verstehe er nichts mehr.
    Er lese die Angaben, fuhr der Kommissär fort: Große, hagere Gestalt, die Haare grau, früher braunrot, die Augen grünlichgrau, Ohren abstehend, das Gesicht schmal und bleich, mit Säcken unter den Augen, die Zähne gesund. Besonderes Kennzeichen: Narbe an der rechten Augenbraue.
    Das sei er genau, sagte Hungertobel.
    «Wer?» fragte Bärlach.
    «Emmenberger», antwortete der Arzt. Er habe ihn aus der Beschreibung erkannt.
    Es sei aber die Beschreibung des in Hamburg tot aufgefundenen Nehle, entgegnete Bärlach, wie sie in den Akten der Kriminalpolizei stehe.
    Um so natürlicher, daß er die beiden verwechselt habe, stellte Hungertobel befriedigt fest. «Jeder von uns kann einem Mörder gleichen. Meine Verwechslung hat die einfachste Erklärung der Welt gefunden. Das mußt du doch einsehen.»
    «Das ist ein Schluß», sagte der Kommissär. «Es sind jedoch noch andere Schlüsse möglich, die auf den ersten Blick nicht zwingend erscheinen, aber doch als ‹auch möglich› näher untersucht werden müssen. Ein anderer Schluß wäre: nicht Emmenberger war in Chile, sondern Nehle unter dessen Namen, während Emmenberger unter des anderen Namen in Stutthof war.»
    Das sei ein unwahrscheinlicher Schluß, wunderte sich Hungertobel. «Gewiß», antwortete Bärlach, aber ein zulässiger. Sie müßten alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.
    «Wo kämen wir denn da um Gottes willen hin!» protestierte der Arzt. «Da hätte Emmenberger sich in Hamburg getötet, und der Arzt, der jetzt die Klinik Sonnenstein leitet, wäre Nehle.»
    «Hast du Emmenberger seit seiner Rückkehr aus Chile gesehen?» warf der Alte ein.
    «Nur flüchtig», antwortete Hungertobel stutzend und griff sich verwirrt an den Kopf. Die Brille hatte er endlich wieder aufgesetzt.
    «Siehst du, diese Möglichkeit ist vorhanden!» fuhr der Kommissär fort. «Möglich wäre auch folgende Lösung: der Tote in Hamburg ist der aus Chile zurückgekehrte Nehle, und Emmenberger kehrte aus Stutthof, wo er den Namen Nehle führte, in die Schweiz zurück.»
    «Da müßten sie schon ein Verbrechen annehmen», sagte Hungertobel kopfschüttelnd, «um diese sonderbare These verfechten zu können.»
    «Richtig, Samuel!» nickte der Kommissär. «Wir müßten annehmen, daß Nehle von Emmenberger getötet worden sei.»
    «Wir können mit dem gleichen Recht auch das Umgekehrte annehmen: Nehle tötete Emmenberger. Deiner Phantasie sind offenbar nicht die geringsten Grenzen gesetzt.»
    «Auch diese These ist richtig», sagte Bärlach. «Auch sie können wir annehmen, wenigstens im jetzigen Grad der Spekulation.»
    Das sei alles Unsinn, sagte der alte Arzt verärgert.
    «Möglich», antwortete Bärlach undurchdringlich.
    Hungertobel wehrte sich energisch. Mit der primitiven Art und Weise, wie der Kommissär mit der Wirklichkeit vorgehe, könne kinderleicht bewiesen werden, was man nur wolle. Mit dieser Methode würde überhaupt alles in Frage gestellt, sagte

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