Der Verdacht
er.
«Ein Kriminalist hat die Pflicht, die Wirklichkeit in Frage zu stellen», antwortete der Alte. «Das ist nun einmal so. Wir müssen in diesem Punkt durchaus wie die Philosophen Vorgehen, von denen es heißt, daß sie erst einmal alles bezweifeln, bevor sie sich hinter ihr Metier machen und die schönsten Spekulationen über die Kunst zu sterben und vom Leben nach dem Tode ausdenken, nur daß wir vielleicht noch weniger taugen als sie. Wir haben zusammen verschiedene Thesen aufgestellt. Alle sind möglich. Dies ist der erste Schritt. Der nächste wird sein, daß wir von den möglichen Thesen die wahrscheinlichen unterscheiden. Das Mögliche und das Wahrscheinliche sind nicht dasselbe; das Mögliche braucht noch lange nicht das Wahrscheinliche zu sein. Wir müssen deshalb den Wahrscheinlichkeitsgrad unserer Thesen untersuchen. Wir haben zwei Personen, zwei Ärzte: auf der einen Seite Nehle, einen Verbrecher, und auf der andern deinen Jugendbekannten Emmenberger, den Leiter der Klinik Sonnenstein in Zürich. Wir haben im wesentlichen zwei Thesen aufgestellt, beide sind möglich. Ihr Wahrscheinlichkeitsgrad ist auf den ersten Blick verschieden. Die eine These behauptet, daß zwischen Emmenberger und Nehle keine Beziehung bestehe, und ist wahrscheinlich, die zweite setzt eine Beziehung und ist unwahrscheinlicher.»
Eben, unterbrach Hungertobel den Alten, das habe er immer gesagt.
«Lieber Samuel», antwortete Bärlach, «ich bin leider nun einmal ein Kriminalist und verpflichtet, in den menschlichen Beziehungen die Verbrechen herauszufinden. Die erste These, die zwischen Nehle und Emmenberger keine Beziehung setzt, interessiert mich nicht. Nehle ist tot, und gegen Emmenberger liegt nichts vor. Dagegen zwingt mich mein Beruf, die zweite, unwahrscheinlichere These näher zu untersuchen. Was ist an dieser These wahrscheinlich? Sie besagt, daß Nehle und Emmenberger ihre Rollen vertauscht haben, daß Emmenberger als Nehle in Stutthof war und ohne Narkose an Häftlingen Operationen vornahm; ferner, daß Nehle in der Rolle des Emmenberger in Chile weilte und von dort Berichte und Abhandlungen an ärztliche Zeitschriften schickte; über das Weitere, den Tod Nehles in Hamburg und den jetzigen Aufenthalt Emmenbergers in Zürich ganz zu schweigen. Diese These ist phantastisch, das wollen wir erst einmal ruhig zugeben. Möglich ist sie insofern, als beide, Emmenberger und Nehle, nicht nur Ärzte sind, sondern sich zudem gleichen, Hier ist der erste Punkt erreicht, bei dem wir zu verweilen haben. Es ist die erste Tatsache, die in unserer Spekulation, in diesem Gewirr von Möglichem und Wahrscheinlichem, auftaucht. Untersuchen wir diese Tatsache. Wie gleichen sich die beiden? Ähnlichkeiten treffen wir oft an, große Ähnlichkeiten seltener, am seltensten sind wohl Ähnlichkeiten, die auch in den zufälligen Dingen übereinstimmen, in Merkmalen, die nicht von der Natur, sondern von einem bestimmten Vorfall herrühren. Das ist hier so. Beide haben nicht nur die gleichen Haar- und Augenfarben, ähnliche Gesichtszüge, gleichen Körperbau und so weiter, sondern auch an der rechten Augenbraue die gleiche, eigentümliche Narbe.»
Nun, das sei Zufall, sagte der Arzt.
«Oder auch Kunst», ergänzte der Alte. Hungertobel habe einst Emmenberger an der Augenbraue operiert. Was er denn gehabt habe?
Die Narbe stamme von einer Operation her, die man bei einer weit fortgeschrittenen Stirnhöhleneiterung anwenden müsse, antwortete Hungertobel.
«Den Schnitt führt man in der Augenbraue durch, damit die Narbe weniger sichtbar wird. Das ist mir damals bei Emmenberger wohl nicht recht gelungen. Ein gewisses Künstlerpech muß da durchaus eine Rolle gespielt haben, ich operiere doch sonst geschickt. Die Narbe wurde deutlicher, als es für einen Chirurgen schicklich war, und außerdem fehlte nachher ein Teil der Braue», sagte er.
Ob diese Operation häufig vorkomme, wollte der Kommissär wissen.
Nun, antwortete Hungertobel, häufig nicht gerade. Man lasse eine Sache in der Stirnhöhle gar nicht so weit kommen, daß man gleich operieren müsse.
«Siehst du», sagte Bärlach, «das ist nun das Merkwürdige: diese nicht allzuhäufige Operation wurde auch bei Nehle durchgeführt, und auch bei ihm weist die Braue eine Lücke vor, an der gleichen Stelle, wie es hier in den Akten steht: die Leiche in Hamburg wurde genau untersucht. Hatte Emmenberger am linken Unterarm eine handbreite Brandnarbe?»
Warum er darauf komme, fragte Hungertobel
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