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Der Verdacht

Der Verdacht

Titel: Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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scheint nur für die Medizin begabt gewesen zu sein. Dann wurde er Naturarzt und Wunderdoktor, zu dem alle Schichten der Bevölkerung liefen, kam mit dem Gesetz in Konflikt, wurde mit einer nicht allzu großen Buße bestraft, weil, wie das Gericht feststellte, ‹seine medizinischen Kenntnisse erstaunlich seien›. Eingaben wurden gemacht, die Zeitungen schrieben für ihn. Vergeblich. Dann ward es still um den Fall. Da er immer wieder rückfällig wurde, drückte man schließlich ein Auge zu, Nehle dokterte in den dreißiger Jahren in Schlesien, Westfalen, im Bayrischen und im Hessischen herum. Dann nach zwanzig Jahren die große Wendung: achtunddreißig besteht er die Maturität. (Siebenunddreißig wanderte Emmenberger von Deutschland nach Chile aus!) Die Leistungen Nehles in den alten Sprachen und in der Mathematik waren glänzend. Auf der Universität wird ihm durch ein Dekret das Studium erlassen, und er bekommt das Staatsdiplom nach einem wie die Maturität glänzenden Staatsexamen, verschwindet jedoch zum allgemeinen Erstaunen als Arzt in den Konzentrationslagern.»
    «Mein Gott», sagte Hungertobel, «was willst du daraus wieder schließen?»
    «Das ist einfach», antwortete Bärlach nicht ohne Spott: «Nehmen wir jetzt die Artikel zur Hand, die wir in der Schweizerischen medizinischen Wochenschrift von Emmenberger zur Verfügung haben und die aus Chile stammen. Auch sie sind eine Tatsache, die wir nicht leugnen können und die wir zu untersuchen haben. Diese Artikel seien wissenschaftlich bemerkenswert. Ich will das glauben. Aber was ich nicht glauben kann, ist, daß sie von einem Menschen stammen, der sich durch einen literarischen Stil auszeichnen soll, wie du das von Emmenberger behauptest. Schwerfälliger kann man sich wohl kaum mehr ausdrücken.»
    «Eine wissenschaftliche Abhandlung ist noch lange kein Gedicht», protestierte der Arzt. «Auch Kant hat schließlich kompliziert geschrieben.»
    «Laß mir den Kant in Ruh!» brummte der Alte. «Der hat schwierig, aber nicht schlecht geschrieben. Der Verfasser dieser Beiträge aus Chile aber schreibt nicht nur schwerfällig, sondern auch grammatikalisch falsch. Der Mann scheint sich über den Dativ und den Akkusativ nicht im klaren gewesen zu sein, wie man das von den Berlinern behauptet, die auch nie wissen, ob man jetzt dir oder dich sagt. Merkwürdig ist auch, daß er Griechisch oft als Lateinisch bezeichnet, als hätte er von diesen Sprachen keine Ahnung, so zum Beispiel in der Nummer fünfzehn vom Jahre zweiundvierzig das Wort Gastrolyse.»
    Im Zimmer herrschte eine tödliche Stille.
    Minutenlang.
    Dann zündete sich Hungertobel eine «Little-Rose of Sumatra» an.
    Bärlach glaube also, daß Nehle diese Abhandlung geschrieben habe? fragte er endlich.
    Er halte es für wahrscheinlich, antwortete der Kommissär gelassen.
    «Ich kann dir nichts mehr entgegnen», sagte der Arzt düster.
    «Wir dürfen jetzt nicht übertreiben», meinte der Alte und schloß die Mappe auf seiner Bettdecke. «Ich habe dir nur die Wahrscheinlichkeit meiner Thesen bewiesen. Aber das Wahrscheinliche ist noch nicht das Wirkliche. Wenn ich sage, daß es morgen wahrscheinlich regnet, braucht es morgen doch nicht zu regnen. In dieser Welt ist der Gedanke mit der Wahrheit nicht identisch. Wir hätten es sonst in vielem leichter, Samuel. Zwischen dem Gedanken und der Wirklichkeit steht immer noch das Abenteuer dieses Daseins, und das wollen wir nun denn in Gottes Namen bestehen.»
    «Das hat doch keinen Sinn», stöhnte Hungertobel und sah hilflos nach seinem Freund, der, wie immer unbeweglich, die Hände hinter dem Kopf, in seinem Bette lag.
    «Du begibst dich in eine fürchterliche Gefahr, wenn deine Spekulation stimmt, denn Emmenberger ist dann ein Teufel!» meinte er.
    «Ich weiß», nickte der Kommissär.
    «Es hat keinen Sinn», sagte der Arzt noch einmal, leise, fast flüsternd.
    «Die Gerechtigkeit hat immer Sinn», beharrte Bärlach auf seinem Unternehmen. «Melde mich bei Emmenberger. Morgen will ich fahren.»
    «Am Silvester?» Hungertobel sprang auf.
    «Ja», antwortete der Alte, «am Silvester.» Und dann funkelten seine Augen spöttisch: «Hast du mir Emmenbergers Traktat über Astrologie mitgebracht?»
    «Gewiß», stotterte der Arzt.
    Bärlach lachte: «Dann gib es her, ich bin doch neugierig, ob nicht etwas über meinen Stern darin steht. Vielleicht habe ich eben doch eine Chance.»

Noch ein Besuch
    D er fürchterliche Alte, der nun den Nachmittag damit verbrachte,

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