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Der Verdacht

Der Verdacht

Titel: Der Verdacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Friedrich Dürrenmatt
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menschlichen Instinkts hervorzubrechen. So mußte er seit jeher seine Flucht ins Privatleben vorbereitet haben, als sei er in der Hölle nur fakultativ angestellt. Danach habe ich meinen Schlag berechnet, Kommissar, und ich habe gut gezielt: Als das Bild im ‹Life› erschien, hat Nehle sich erschossen; es genügte dazu, daß die Welt seinen Namen wußte, Kommissar, denn wer vorsichtig ist, verbirgt seinen Namen (das war das letzte, was der Alte von Gulliver hörte, es war wie der dumpfe Schlag einer ehernen Glocke, schrecklich dröhnend im Ohr des Kranken), seinen Namen!»
    Nun tat der Wodka seine Wirkung. Zwar war dem Kranken noch, als ob sich die Vorhänge da drüben am Fenster wie die Segel eines dahinschwindenden Schiffes blähten, als ob ferner das Rasseln eines Rolladens vernehmbar sei, der sich in die Höhe schob; dann, noch undeutlicher, als ob ein riesenhafter, massiger Leib hinab in die Nacht tauche; aber dann, da durch die klaffende Wunde des offenen Fensters die unabsehbare Fülle der Sterne brach, stieß im Alten ein unbändiger Trotz hoch, in dieser Welt zu bestehen und für eine andere, bessere, zu kämpfen, zu kämpfen auch mit diesem seinem jammervollen Leib, an welchem der Krebs fraß, gierig und unaufhaltsam, und dem man noch ein Jahr gab und nicht mehr, grölend sang er, als der Wodka wie Feuer in seinen Eingeweiden zu brennen anfing, den Berner Marsch hinein in die Stille des Spitals, daß die Kranken unruhig wurden. Nichts Kräftigeres fiel ihm ein; doch war er dann, als die fassungslose Nachtschwester hereinstürzte, schon eingeschlafen.

Die Spekulation
    A m andern Morgen, es war Donnerstag, erwachte Bärlach, wie vorauszusehen war, erst gegen zwölf, kurz bevor das Mittagessen gebracht wurde. Sein Kopf schien ihm ein wenig schwer, aber sonst fühlte er sich wohl wie schon lange nicht und dachte, hin und wieder ein richtiger Schluck Schnaps sei doch das Beste, besonders wenn man schon im Bett liege und nicht trinken dürfe. Auf dem Nachttisch lag die Post; Lutz hatte Bericht über Nehle schicken lassen. Über die Organisation bei der Polizei ließ sich heute wirklich nichts mehr sagen, vor allem nicht, wenn man nun pensioniert wurde, was übermorgen Gott sei Dank der Fall war; in Konstantinopel mußte man Anno dazumal monatelang auf eine Auskunft warten. Doch bevor sich der Alte hinters Lesen machen konnte, brachte die Krankenschwester das Essen. Es war die Schwester Lina, die er besonders mochte, doch schien sie ihm heute reserviert, gar nicht mehr ganz so wie früher. Es wurde dem Kommissär unheimlich. Man mußte doch irgendwie hinter die gestrige Nacht gekommen sein, vermutete er. Unbegreiflich. Es war ihm zwar, als ob er am Schluß den Berner Marsch gesungen hätte, als Gulliver gegangen war, aber dies mußte eine Täuschung sein, er war ja überhaupt nicht patriotisch. Verflixt, dachte er, wenn man sich nur erinnern könnte! Der Alte sah sich mißtrauisch im Zimmer um, während er die Haferschleimsuppe löffelte. (Immer Haferschleimsuppe!) Auf dem Waschtisch standen einige Flaschen und Medikamente, die vorher nicht dagewesen waren. Was sollte denn dies wieder bedeuten? Dem Ganzen war nicht zu trauen. Überdies erschienen alle zehn Minuten immer andere Schwestern, um irgend etwas zu holen, zu suchen oder zu bringen; eine kicherte draußen im Korridor, er hörte es deutlich. Nach Hungertobel wagte er nicht zu fragen, es war ihm auch ganz recht, daß dieser erst gegen Abend kam, weil er doch über Mittag seine Praxis in der Stadt hatte. Bärlach schluckte trübsinnig den Grießbrei mit Apfelmus hinunter (auch dies war keine Abwechslung), war dann aber überrascht, als es darauf zum Dessert einen starken Kaffee mit Zucker gab – auf besondere Anweisung Doktor Hungertobels, wie sich die Schwester vorwurfsvoll ausdrückte. Sonst war dies nie der Fall gewesen. Der Kaffee schmeckte ihm und heiterte ihn auf. Dann vertiefte er sich in die Akten, das war das Gescheiteste, was zu tun war, doch schon nach eins kam zu seiner Überraschung Hungertobel herein, mit einem bedenklichen Gesicht, wie der Alte, scheinbar immer noch in seine Papiere vertieft, mit einer unmerklichen Bewegung seiner Augen wahrnahm.
    «Hans», sagte Hungertobel und trat entschlossen ans Bett, «was ist denn um Himmels willen geschehen? Ich würde schwören, und mit mir alle Schwestern, daß du einen Bombenrausch gehabt hast!»
    «So», sagte der Alte und sah von seinen Akten auf. Und dann sagte er: «Ei!»
    Jawohl, antwortete

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