Der vergessene Strand
Schon vorher glaubte alle Welt, ich müsse doch völlig in dieser neuen Aufgabe aufgehen. Und nach der Geburt hatte ich überhaupt keine Rechte mehr. Hauptsache, das Kind war immer bei der Mutter. Dass ich vielleicht wieder in den Job zurückkehren wollte … nun ja.»
Laras ältere Tochter war fünf, die Kleine gerade zwei. Es gefiel Amelie, wie unkompliziert Lara ihren Alltag bewältigte. Sie teilte sich die Kinderbetreuung mit ihrem Mann. Zwei Tage die Woche war sie im Büro, den Rest der Zeit arbeitete sie von zu Hause. Dass es für sie schwer gewesen war, sich diesen idealen Zustand zu erkämpfen, hatte Amelie nicht gewusst.
Lass dir das Leben nicht aus der Hand nehmen …
Darüber musste sie nachdenken. Denn irgendwie hatte sie dieses diffuse Gefühl, dass genau das schon längst passiert war.
Jedes Jahr im Frühsommer kam eine reiche, amerikanische Familie nach Pembroke. Eins, zwei, drei Kinder hingen am Rockzipfel der schönen, jungen Mutter. Die Kinder wuchsen heran, die Mutter wurde immer schöner. Sie war still und freundlich, ihr Mann war ein netter Kerl. Keiner konnte etwas gegen diese Leute sagen. Sie waren anständige Leute. Neureich, nun gut. Das konnte schon mal vorkommen, dass man viel Geld verdiente. Aber sie gaben es großzügig aus: Jedes Jahr mieteten sie ein Haus am Strand, und sie stellten über den Sommer zehn Leute ein, die dann gutes Geld verdienten.
Unter diesen zehn Leuten war jedes Jahr wieder auch Franny. Diese Leute aus Amerika mochten ansonsten in ihrer Dienstbotenwahl eher willkürlich sein – tatsächlich stellten sie immer jene ein, die im vergangenen Jahr vom Pech verfolgt gewesen waren, sodass man im Winter bald schon zu den Unglücklichen im Städtchen sagte: «Warte nur, im Sommer kommen die Amerikaner wieder, da kannst du genug Geld verdienen, um wieder auf die Füße zu kommen.» Als wüssten sie, wer’s besonders nötig hatte. Aber jedes Jahr stellten sie auch Franny ein, die als Haushälterin alles richtete.
Vielleicht, munkelte man, war Franny diejenige, die den Herrschaften sagte, wer besonders bedürftig war. Jedenfalls ging man bald schon zu ihr, wenn man Rat suchte. Man schaute nicht mehr auf sie herunter, weil sie so ganz allein ein Kind aufzog. Franny kam gut über die Runden, und das Mädchen war wohlerzogen und wuchs zu einer kleinen Schönheit heran. Die bleibt nicht bei uns, flüsterte man, die findet bestimmt einen reichen Kerl irgendwann.
Die Sommer in Pembroke, immer zwei Wochen im Juni, waren für Anne die schönste und traurigste Zeit des Jahres. Dann durfte sie ihre Tochter sehen, und sei es nur wenige Male. Und kurz. Es war wunderbar zu sehen, wie Antonia heranwuchs. Wie schön sie war. Wie sie sich bewegte und wie alles an ihr an G- erinnerte. Wäre sie bei Anne aufgewachsen, hätte sie eines Tages in die Gesellschaft Londons eingeführt werden können – und Anne war überzeugt, dass ihre Tochter einen Mann gefunden hätte, der sie liebte. So blieb nur die Hoffnung, dass es hier geschehen würde.
Nach den zwei Wochen in Pembroke reisten sie nach London, wo sie eine Zeitlang blieben, und meist folgte dann ein Abstecher aufs Land zu Beatrix. Spätestens dort wurde Anne von Erschöpfung übermannt, und sie musste sich drei Tage ins Bett legen. Im abgedunkelten Schlafzimmer ließ sie allenfalls ihre Schwester zu sich.
In diesen dunklen Tagen waren sie wieder Bumble und Bee, unzertrennliche Schwestern. Während Anne mit halbgeschlossenen Augen dalag und wartete, dass der Schmerz verging – kein Kopfschmerz, sondern anhaltender Herzschmerz –, saß ihre Schwester bei ihr und erzählte, was sie in den Briefen der vergangenen zwölf Monate verschwiegen hatte.
Trisk und Bee lebten recht bequem in ihrer Ehe. Nach der Geburt der jüngsten Tochter Ella ging jeder von ihnen seinen eigenen Weg. Er hatte zahlreiche Affären, während sie ihre Erfüllung in den Salons der Stadt fand. «Wir führen eine moderne Ehe», behauptete sie stets, doch sie sagte es so traurig, als hätte sie nichts dagegen, eine unmoderne Ehe zu führen.
Wenn sie still im Schlafzimmer saßen, fragte Bee jedes Mal nach Antonia.
«Sie ist wunderschön», sagte Anne dann immer.
Mehr nicht.
Denn manches konnte man eben nicht in Worte fassen.
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Kapitel 20
L ass dir das Leben nicht aus der Hand nehmen …
Genau das passierte aber gerade. Amelie hatte es im ersten Moment als angenehm empfunden, ein bisschen umsorgt zu werden, Verantwortung
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