Der vergessene Strand
aufgelösten Knäueln und Strickscheußlichkeiten.
«Ja, nicht wahr?» Dankbar, einen Bewunderer gefunden zu haben, zog Amelies Mutter nacheinander Babyjäckchen, winzige Schühchen und Minipulswärmer aus dem Körbchen. So langsam beschlich Amelie ein Verdacht.
«Wann hast du das denn alles gestrickt?», wollte sie wissen.
«Och, hier und da», meinte ihre Mutter. «Wenn Zeit war.»
«Wenn in den letzten drei Wochen Zeit war?», bohrte Amelie nach. «Oder hortest du diese Sachen schon seit Monaten?»
«Na ja …» Verlegen strich ihre Mutter über ein rosa Jäckchen. In Braun oder Grau hätte Amelie an dem Muster vielleicht sogar Gefallen gefunden. So sah es einfach nur furchtbar aus.
«Warum tust du das?»
«Was? Stricken? Es beruhigt die Nerven! Du weißt doch, wie rappelig deine alte Mutter ist. Und früher habe ich auch gern gestrickt für dich und deinen …» Wieder verstummte sie abrupt. Diesmal schien sie sich geradezu auf die Zunge zu beißen.
Sieh an, dachte Amelie. Die Vergangenheit kam also auch für ihre Mutter wieder hoch.
«Meinen Vater», vollendete sie den Satz. «Wieso erzählst du mir nicht von ihm?»
«Da gibt es nichts zu erzählen», behauptete ihre Mutter.
«Nein? Er kam aus Pembroke. Ich hab mit meinem Großvater gesprochen. Mit Jonathan Bowden. Du kennst ihn, nicht wahr? Er konnte sich noch sehr gut an dich erinnern. Und nicht nur er. Ich hab einige ältere Damen getroffen. Sie waren anfangs sehr reserviert, später aber durchaus zum Plaudern aufgelegt.»
Amelies Mutter stand auf, als ertrüge sie die Nähe der eigenen Tochter nicht eine Sekunde länger. «Ach ja?» Sie lachte verlegen. «Das ist schön. Also, ich meine …»
«Sie dachten alle, ich sei auf der Suche nach meinem Vater, und die meisten waren nicht besonders freundlich. Erst wenn ich von meinem Buch erzählte, wurden sie zugänglicher. Weißt du eigentlich, wie dumm ich mir vorkam? Ich weiß nichts über ihn. Ich hab keine Ahnung, was damals vorgefallen ist. Warum du mit mir aus Pembroke weggegangen bist. Ich kann mich an nichts mehr erinnern, aber ich war irgendwann dort.»
«Ach, das …» Wieder dieses nervöse Lachen. «Wir waren nicht lange dort, Amelie. Einen Sommer lang, also …»
Ihre Unsicherheit verriet sie. Amelie spürte, dass der Widerstand ihrer Mutter bröckelte. Sie hätte gern nachgehakt, aber etwas hielt sie davon ab. Vielleicht Michaels Blick, der über dem Kaffeetisch ihren suchte und zugleich ganz leicht den Kopf schüttelte. Vielleicht ein unbestimmtes Gefühl, dass sie jetzt mehr zerstören als gewinnen würde.
«Ich bin müde», sagte sie daher und stand ebenfalls auf. «Fahren wir heim? Bitte?»
Michael nickte mit vollem Mund, er hatte sich gerade über sein drittes Stück Rhabarberbaiser hermachen wollen. Amelies Mutter schniefte und packte die Babyklamöttchen wieder in den Korb. Gerne hätte Amelie sie getröstet, aber sie wollte nichts Falsches sagen. Jedes Wort, hatte sie das Gefühl, könnte falsch ausgelegt werden.
Als sie im Auto saßen, sprach sie es aus.
«Ich kann das nicht mehr», sagte sie leise.
«Was denn, Liebes?» Michael konzentrierte sich auf den Verkehr.
Sie machte eine hilflose Geste. «Alles.» Plötzlich kamen ihr die Tränen. «Hier leben. Mit dir zusammen sein. Ihre Lügen anhören.»
Darauf schwieg er. Als sie an einer Ampel anhalten mussten, gab Michael ihr stumm ein Taschentuch. Und dann sagte er, sehr leise: «Lass uns zu Hause darüber reden.»
Daraufhin weinte sie noch mehr, weil es so schrecklich war, wie verständnisvoll er mit ihr umging. Während sie sich wie die letzte Idiotin fühlte, die das, was sie hatte, konsequent zerstörte.
Daheim redeten sie nicht, sondern gingen sich aus dem Weg. Amelie verschanzte sich in ihrem Arbeitszimmer und schloss die Tür. Abwechselnd weinte sie, schrieb ein paar Sätze am neuen Buchkapitel und starrte aus dem Fenster. Sie hörte Michael, der oben irgendwas tat; es klang bedrohlich, und sie traute sich nicht, nachzuschauen.
Am Abend zog ein herrlich würziger Duft durch das Haus und lockte sie aus dem Zimmer. Michael stand am Herd. «Da bist du ja», meinte er fröhlich. «Bist du gut vorangekommen?»
Gerade so, als habe es ihren Ausbruch vom Nachmittag nicht gegeben.
Amelie sank auf einen Stuhl und starrte wie betäubt auf den gedeckten Tisch. Platzdeckchen, Kerzen, eine Schüssel mit buntem Salat, dazu Croutons und Käsewürfel in kleinen Schüsselchen. Gerade holte Michael frische Brötchen
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