Der vergessene Strand
Schicksal. Nichts war vorherbestimmt, alles hatte einen Grund.
«Jede noch so kleine Entscheidung beeinflusst das Leben vieler Menschen», meinte Michael. «Hätte deine Mutter die Bücher nicht aufbewahrt – aus welchen Gründen auch immer –, wärst du nie auf Beatrix Lambton gestoßen. Du hättest vielleicht nie über sie geforscht und geschrieben. Und dann wärst du nicht nach Wales gefahren.»
Einen wichtigen Punkt vergaß er bei seiner Aufzählung. Sie wäre auch dann nicht nach Pembroke gefahren, wenn sie nicht von seinem anderen Kind erfahren hätte.
Aber manchmal war es eben besser, wenn man schwieg.
Sie gingen früh ins Bett. Ehe sie das Licht löschten, nahm Michael sie in die Arme. «Geht’s dir jetzt besser?», fragte er leise. Sie nickte.
Obwohl das gelogen war.
Nichts hatte sich geändert.
Und sie sehnte sich zurück nach Pembroke.
Vor dem Gespräch mit ihrer Lektorin und dem Verleger hatte Amelie sich ein bisschen gefürchtet. Sie trafen sich in Mitte unweit des Verlagshauses in einem kleinen italienischen Restaurant. Nach der obligatorischen Begrüßung und einer ersten Runde Smalltalk kam Herr Zühlke gleich zur Sache.
«Frau Schmitz hat mir von Ihren Plänen erzählt, das ganze Buch umzuschreiben.»
Amelie nickte. «Es hat sich ein neuer Aspekt ergeben.» Sie hatte die Änderungen bereits vor ein paar Tagen in einem Dokument zusammengefasst und an ihre Lektorin geschickt.
Herr Zühlke nickte ungeduldig. «Hab ich mir angeschaut. Sieht prima aus. Also brauchen Sie länger, bis das Buch fertig ist?»
Amelie zögerte. Die zwei Wochen in Pembroke hatten sie vorangebracht, und seit ihrer Rückkehr lief die Arbeit erstaunlich gut – vermutlich, weil sie jetzt endlich eine klare Linie erkennen konnte. Trotzdem blieb noch viel Arbeit.
«Nicht viel», versicherte sie. «Einen Monat. Höchstens zwei.»
«Gut. Ich will den Erscheinungstermin des Buches nämlich nicht verschieben müssen. Wir sind kein Großverlag, der so etwas einfach abfedern kann. Es gibt Pläne. Programmplätze. Sie verstehen das sicher. Sie geben im September ab, und das Buch erscheint im März zur Leipziger Buchmesse.»
Amelie nickte geduldig, obwohl sie kein Wort verstand.
Nach dem Essen verabschiedete Herr Zühlke sich beinahe überstürzt und ließ die beiden Frauen allein. Lara Schmitz, mit der Amelie sich sehr gut verstand, bestellte sich einen Espresso. «Nimm’s ihm nicht übel. Er ist ein bisschen grätzig. Aber er liebt dein Buch.»
«Ich hatte bisher immer das Gefühl, er macht es nur, weil ich Michaels Freundin bin.»
«Was denn, weil er Michael einen Gefallen tun will? Ach wo. Du bist gut, Amelie. Und das weiß er. Ich glaub eher, er hat Angst, dass du zu gut bist. Dann wird dein Buch ein Erfolg, und fürs Nächste machen dir die großen Verlage die verlockenden Angebote. Dann schreibst du zwar zu Themen, die man für dich aussucht, aber du könntest richtig gutes Geld verdienen.»
Darüber hatte Amelie noch nicht nachgedacht. «Meinst du wirklich?»
«Du arbeitest sehr sorgfältig, wissenschaftlich genau und hast eine eigene Stimme, ohne irgendwie künstlich oder literarisch wirken zu wollen. Das kommt an. Wenn du mich fragst, hättest du mit einem Agenten und den richtigen Ideen gute Chancen, vom Schreiben zu leben. Biographien, Sachbücher – das kann eben nicht jeder. Einen Roman zu schreiben, dazu fühlen sich viele berufen. Aber so, wie du ein historisches Thema aufarbeitest? Das gelingt den wenigsten.»
«Ich hab immer geglaubt, dieses eine Buch wär was Einmaliges. Dass ich danach nur noch … Na ja, Hausfrau und Mutter bin oder so.»
«Wärst du damit denn glücklich?», fragte Lara.
Eine interessante Frage, auf die Amelie auf Anhieb keine Antwort wusste. Aber die Zeit drängte; es würde nicht mehr lange dauern, bis sie eine Entscheidung treffen musste.
Wie wollte sie in den nächsten zwei, drei, fünf – zehn Jahren leben?
Für Michael war der Fall klar. Aber er verlor ja auch nicht seine Unabhängigkeit. Für ihn änderte sich nichts. Er heiratete sie, bekam ein Kind dazu und konnte weiter zur Arbeit gehen. Amelie hingegen würde daheimbleiben und müsste sich vermutlich ganz allein den Alltagssorgen ihrer neuen Rolle stellen.
Gleichberechtigte Partnerschaft schön und gut – die Realität sah nun einmal ganz anders aus.
«Lass dir das Leben bloß nicht aus der Hand nehmen», riet Lara ihr zum Abschied. «Den Fehler hab ich damals gemacht, als ich das erste Kind bekam.
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