Der vergessene Strand
streifte sie die Turnschuhe von den Füßen. «Nein», seufzte sie. «Wir lassen es einfach stehen.»
«Ist kein Problem, ich fahr mit der U-Bahn hin.»
«Lass!», fauchte sie ihn an. «Verdammt, hör endlich auf, mir alles abnehmen zu wollen, hörst du? Was ist denn bloß mit dir los, dass du ständig um mich kreist, als wäre ich todkrank? Ich kann schon selbst für mich sorgen!»
Verletzt und überrascht machte Michael einen halben Schritt nach hinten. «Entschuldige», sagte er sichtlich verwirrt. «Ich dachte nur …»
Sie ließ ihn stehen. Sonst wäre sie in diesem Augenblick laut geworden, und das hatte er nun wirklich nicht verdient.
Er meinte es ja nur gut.
Amelie zog sich in ihr Arbeitszimmer zurück. Sie musste nachdenken. Und während sie mitten im Raum stand und auf die Papierberge starrte, begann sie, die einzelnen Stapel zu sortieren. Ganz mechanisch, nach Relevanz. Sie warf einen Großteil der Notizen und Aufsätze weg, weil sie beides nicht mehr brauchte. Wichtige Unterlagen kamen in einen Karton. Unwichtige stapelte sie auf dem Boden, denn die brauchte sie nicht mitzunehmen, wenn sie nach Pembroke fuhr.
Hier hielt sie nichts. Michael erdrückte sie mit seiner Fürsorglichkeit, und das beharrliche Schweigen ihrer Mutter ertrug sie keinen Tag länger. Sie sehnte sich nach dem Gespräch mit Menschen, die sie nicht in eine Rolle oder in eine Ecke drängen wollten.
Sie sehnte sich nach Dan.
Die Erkenntnis war nicht allzu überraschend. Sie hatte in den letzten Tagen immer mehr an ihn gedacht. Hatte sich gefragt, ob das schon Vermissen war, was sie da empfand. Oder ob sie einfach nur nach dieser friedlichen Atmosphäre suchte, die sie in seiner kleinen Wohnung genossen hatte. Oder ob er der Grund war, aus dem sie sich immer wieder dabei ertappte, in Gedanken ihren Koffer zu packen.
Vielleicht eine Mischung aus beidem.
Als sie den Karton mit den Unterlagen und ihren wichtigsten Büchern in den Flur trug, hörte sie Michael erneut telefonieren. Sprach er wieder mit ihrer Mutter? Wahrscheinlich. Die beiden waren Verbündete im Kampf gegen Amelies Weigerung, sich in ihr neues Leben zu fügen.
Sie nutzte die Gelegenheit und lief nach oben. Seit Michael den Haushalt führte, lagerte die Wäsche oft ein paar Tage im Wäschekorb, ehe er sie nachlässig zusammenlegte. Sie sammelte T-Shirts, Hosen, Unterwäsche und zwei Pullover zusammen, holte ihre Lieblingsstrickjacke aus dem Schrank und den Koffer aus der Nische neben der Kommode. Sie packte diesmal systematischer und mit Bedacht. Nicht wie bei ihrer ersten Flucht, als sie wahllos alles in den Koffer geworfen hatte und ihr später die Hälfte fehlte. Diesmal wollte sie gewappnet sein, um das Buch in Wales fertigschreiben zu können.
«Amelie?» Michael klopfte sanft gegen die Schlafzimmertür, die sie nur angelehnt hatte. Sie überlegte gerade, ob sie den Wintermantel auch schon mitnehmen sollte, aber das wäre dann doch wohl übertrieben. Sollte sie bis zum Spätherbst in Pembroke bleiben – im Moment schien ihr das fast verlockend –, bräuchte sie ohnehin einen neuen Mantel, weil sie dann einen beachtlichen Babybauch vor sich herschieben würde.
«Was machst du denn, Am?» Er stand in der Tür, mit hängenden Armen. «Wieso packst du?»
«Ich fahr zurück nach Pembroke», erklärte sie ganz ruhig. Jetzt bloß nicht die Fassung verlieren, das war schlecht für ihren Blutdruck und fürs Baby. Ausgerechnet in dieser Situation dachte sie das erste Mal wirklich bewusst daran, was für das Baby das Beste war. Bisher war ihre Schwangerschaft zu abstrakt gewesen, kaum begreifbar für sie.
«Ja, aber wieso? Wir wollen doch …»
Sie unterbrach ihn. «Nein, nicht
wir
wollen etwas», erwiderte sie scharf. «Du willst heiraten, Mama will die Vergangenheit begraben. Ihr wollt, dass ich mich füge. Ginge es nach euch, hätte ich gar nichts mehr zu sagen.»
«Das ist nicht fair.» Michael war verletzt.
«Nein? Wieso darf ich dann gar nichts selbst entscheiden? Wieso redet ihr hinter meinem Rücken über mich? Wieso redet hier niemand mehr mit mir?»
«Ich rede doch mit dir», protestierte Michael.
«Ja, weil’s grad nicht anders geht. Weil du nicht willst, dass ich abhaue.»
«Das will ich tatsächlich nicht.» Er atmete tief durch. «Bitte, Amelie. Wir können doch vernünftig über alles reden, oder?»
«Das hab ich doch versucht. Aber du magst nicht darüber reden, wie unser Leben aussehen wird in Zukunft. Und Mama mag nicht über die
Weitere Kostenlose Bücher