Der vergessene Strand
aus dem Ofen. «Es gibt Chili con Carne», verkündete er, und erst jetzt merkte sie, wie ausgehungert sie war. Es musste schon nach neun sein, und draußen war es immer noch hell. Sommer eben – die schönste Jahreszeit.
Sie aßen, und es war einfach köstlich. Michael verhielt sich ganz normal, als sei alles in bester Ordnung. Und vielleicht ist es das ja auch, dachte Amelie. Sie fühlte sich wieder etwas sicherer. Seine ruhige Art verlieh ihr etwas mehr Halt, der Boden unter ihren Füßen bebte nicht mehr wie noch vor ein paar Stunden, als sie glaubte, ihr Leben müsse sich jetzt sofort um 180 Grad drehen.
Nach dem Essen spülte Michael ab, und dann saßen sie noch ein wenig in der Küche. Die Kerzen brannten langsam herunter, Michael hatte sich ein Glas Wein genommen. Sie diskutierten über Amelies Buch. Sie erzählte ihm, dass sie am nächsten Tag einen Termin mit ihrer Lektorin und dem Verleger hatte, um über die Neuausrichtung zu sprechen.
«Und dann?», fragte Michael. «Fährst du zurück nach Pembroke?» Er klang plötzlich verunsichert.
«Nicht sofort», sagte sie leise. «In ein paar Wochen müsste ich aber wieder dorthin, weil ich ja bisher nur nach Beatrix geschaut habe. Anne ist mir eher zufällig über den Weg gelaufen. Ich hab schon viel Material über sie, aber es gibt noch viel zu viele Lücken.»
«Wenn du erst im Juli fährst, komme ich mit. Ob ich dort arbeite oder hier, ist ja nicht so wichtig. Wir könnten das Häuschen herrichten, wenn du magst.»
Amelie hatte ihm inzwischen das meiste erzählt – von ihren Gesprächen mit Jonathan, von dem Häuschen am Strand und davon, wie die Erinnerung sie an manchen Orten einholte. «Ich zermartere mir seit Tagen das Hirn, wieso ich ausgerechnet nach Pembroke geraten bin. Ich hätte in jeder anderen englischen Stadt landen können mit meinen Recherchen.»
Michael spielte nachdenklich mit dem Stiel seines Weinglases. «Als du das erste Mal zu mir kamst und von dem Projekt erzählt hast, weißt du noch, was du zu mir gesagt hast?», fragte er leise.
Amelie nickte. Das musste inzwischen drei Jahre her sein.
«Ich hab dich gefragt, warum ausgerechnet Beatrix Lambton. Es gibt so viele Frauengestalten Ende des 19 . Jahrhunderts, die eine spannende Biographie haben. Du hast geantwortet, dass Beatrix exemplarisch sei. Und dass du mal in einem Buch über sie gelesen hättest.»
«Das stimmt …» Jetzt erinnerte Amelie sich wieder an das Gespräch.
«Du hast erzählt, du hättest deiner Mutter ein Buch … geklaut?»
«Ich habe es mir als Dauerleihgabe genommen.» Beide lächelten verschwörerisch. So hatten sie es immer getan, wenn sie darauf zu sprechen kamen. Inzwischen wusste Amelie von Cedric, wie wertvoll das Buch war.
Sie musste damals zwölf oder dreizehn gewesen sein. Ihre Mutter hatte den Laden eröffnet, weil sie sich damit einen Traum hatte erfüllen können. Das hieß aber auch, dass sie erst abends zu Hause war. Amelie kam mittags von der Schule, schmierte sich ein paar Stullen und machte ihre Hausaufgaben. Weil ihr das unbeschränkte Fernsehen an diesen Nachmittagen irgendwann zu langweilig wurde, machte sie sich über den Bücherschrank her und verschlang im Laufe der Zeit so ziemlich jedes Buch, das darin stand. So hatte sie «Vom Winde verweht» schon mit dreizehn lieben gelernt.
Und eines Tages, im November – sie wusste genau, dass es November gewesen war, denn vom Martinssingen hatte sie einen großen Korb mit Süßigkeiten in ihrem Zimmer stehen, von denen sie naschte –, fand sie ein Buch auf Englisch. «The History of Pembroke» hieß es, und sie las es. Mehrmals, weil vieles beim ersten Lesen nicht verständlich war, doch irgendwie konnte sie sich die Sprache sehr schnell erschließen. Sie war von Anfang an ein Ass in Englisch gewesen. In Latein hatte sie deutlich mehr Probleme.
Inzwischen wusste sie, warum das so war. Weil sie die ersten Jahre vermutlich zweisprachig aufgewachsen war. Nach der Rückkehr nach Berlin hatte sie die Sprache tief in sich vergraben, weil keiner mehr mit ihr Englisch sprach. Erst auf der weiterführenden Schule war dieser verschüttete Sprachschatz Stück für Stück gehoben worden.
Nach der Lektüre des Buches über die Geschichte Pembrokes war ihr wenige Wochen später beim Stöbern im Bücherregal jene Autobiographie von Beatrix in die Hände gefallen.
«Das war also nicht bloß ein Zufall …» Die Erkenntnis war irgendwie beruhigend. Sie glaubte nicht an Zufälle oder
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