Der vergessene Strand
Sie.»
«Ich weiß nur nicht, wo die jetzt sind. Vielleicht finden Sie in einem späteren Tagebuch ja einen Hinweis.»
«Vielen Dank. Ich werde nachschauen.»
«Gut, wir müssen dann weiter.» Miss Fenwick legte eine Pfundnote auf den Tisch und scheuchte die Tremayne-Schwestern auf. «War schön, mal wieder mit Ihnen zu plaudern, Amy. Grüße an Mathilda und Ihren Herrn Großvater.»
Im Gänsemarsch trippelten die drei von dannen. Amelie blieb keine Zeit, über diesen merkwürdigen Besuch nachzudenken, denn schon riefen die nächsten Gäste nach ihr. Bis zum Abend war sie ständig auf den Beinen. Erst als sie sich nach dem Abendessen auf ihr Zimmer zurückzog, fiel ihr das Gespräch wieder ein.
Sie holte die fünf Kladden hervor und blätterte lustlos darin herum. Besonders die letzte machte nicht gerade den Eindruck, als könne sie daraus irgendeine Erkenntnis ziehen.
Doch dann stieß sie auf den Eintrag vom 17 . Mai 1913 . Und während sie die Zeilen Frannys las, wurde sie das Gefühl nicht los, diese Geschichte von irgendwoher zu kennen …
17 . Mai 1913
Das Kind ist kein Kind mehr.
Keiner kann das mehr leugnen, denn gestern hat das Kind sich mit einem feschen Kerl verlobt. Ein Kapitän zur See, eine gute Partie, würden alle im Dorf sagen, aber ich weiß, dass es für das Kind nie genug sein wird. Es hat so viel mehr verdient, aber es wirkt sehr zufrieden mit seinem Verlobten. Er hat ihr einen goldenen Ring geschenkt, ganz schlicht und wunderschön. Sie werden ein eigenes Haus beziehen, in der Main Street. Dass er verschroben ist, sollen die Leute meinethalben gern hinter vorgehaltener Hand flüstern. Solange er das Mädchen glücklich macht, soll es mir recht sein.
Seine schönste Verrücktheit ist bestimmt die leuchtend blaue Tür seines Hauses. Die zahllosen Schätze, die er von seinen Reisen über die sieben Weltmeere heimgebracht hat, versammelt er hinter dieser Tür, und es bleibt noch genug Platz für viele Kinder.
Im Oktober feiern wir Hochzeit. Ich werde ihrer Patin schreiben, dass sie ein anständiges Kleid bekommt und alles, was eine junge Frau für ihren eigenen Hausstand braucht.
Sie ist kein Kind mehr. Und schon im Oktober wird sie die junge Mrs. Bowden sein, mit eigenem Hausstand und hoffentlich schon bald gesegnet mit einer großen Kinderschar.
Ich bin nun nicht länger für sie verantwortlich, denn ich habe sie aufgezogen, wie man es mir einst aufgetragen hat. Sie war für mich immer wie eine Tochter. Aber jetzt trennen sich unsere Wege. Sie gehört nicht mir, das hat sie nie. Ich bekam sie von ihrer Mutter nur anvertraut, dass ich sie aufziehe und dann gehen lasse.
Ich habe meine Pflicht erfüllt. Alles Weitere liegt allein in Gottes Hand.
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Kapitel 22
F rannys Tochter war Antonia. Also nicht Frannys Tochter, sondern … Annes Kind? Das Mädchen?
Konnte das sein?
Hatte Anne ihr Kind in Pembroke zurückgelassen, in der Obhut ihres Dienstmädchens, damit dieses sich um das Kind kümmerte? War Antonia also hier aufgewachsen?
Amelies Herz klopfte heftig. Das war es. Dafür gruben Historiker monatelang in den Archiven. Und ihr fiel dieses Detail einfach so in den Schoß. Sie drückte die Kladden glücklich an ihre Brust.
Wie konnte sie auch nur einen Moment lang daran denken, Pembroke zu verlassen? Dafür war es hier doch viel zu spannend!
Es war gar nicht schwer, an die Geburtsurkunde heranzukommen.
Als Amelie zwei Tage später in das Standesamt von Pembroke kam, sah sie sich einem bekannten Gesicht gegenüber.
«Mrs. Tremayne!», rief Amelie ehrlich überrascht.
Rosalie – es war doch Rosalie, oder? – lächelte schmal. «Eigentlich Miss Tremayne», sagte sie spitz.
Sie saß hinter einem kleinen, plastikgrauen Schreibtisch, auf dem sich die Akten stapelten. Der zweite Schreibtisch im Raum war ebenso vollgeräumt, und auf der Fensterbank standen einige Orchideen, die üppig blühten. Amelie wäre jede Wette eingegangen, dass Edith den zweiten Schreibtisch besetzt hielt.
«Entschuldigung», sagte sie hastig.
«Was kann ich für Sie tun, Amy?»
«Ich würde gern eine Kopie meiner Geburtsurkunde bekommen. Und … die Heiratsurkunde meiner Eltern.»
«Hm», machte Rosalie. «Die beiden haben damals hier geheiratet, sind Sie da sicher?»
«Nein, ich bin mir da überhaupt nicht sicher.»
«Ich werde nachschauen.»
Erstaunlich fix zog Rosalie Tremayne die auf einer schwenkbaren Halterung befestigte Tastatur heran und tippte. Nach
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