Der vergessene Strand
wenigen Sekunden ratterte der Drucker los. Keine zwei Minuten später hielt Amelie zwei Dokumente in der Hand, dazu eine Quittung über fünfzehn Pfund, die sie sofort begleichen musste.
Sie war im ersten Moment viel zu perplex, um auf die Heiratsurkunde zu schauen. «Können Sie auch nachsehen, ob mein Vater noch in Pembroke gemeldet ist?»
«Das brauche ich nicht nachzusehen, Herzchen.» Rosalie klapperte trotzdem auf die Tastatur. «Da, wusste ich’s doch. Er ist 1984 weggezogen. Seine neue Meldeadresse …» Sie schrieb etwas auf einen Zettel und reichte ihn Amelie. «Sagen Sie aber niemandem, dass Sie die von mir haben. Darf ich eigentlich nicht rausgeben.» Sie zwinkerte verschwörerisch.
«Danke», sagte Amelie verdutzt. Sie hatte ja keine Ahnung, dass sie in Pembroke schon so viele Freunde hatte.
«Sind Sie derweil mit den Tagebüchern weitergekommen?», erkundigte sich Rosalie neugierig.
«Ja, na ja …» Amelie zögerte. Sie hätte nur zu gern mit jemandem über ihre neue Entdeckung gesprochen. Aber wenn Rosalie Tremayne davon wusste, würde der ganze Kaffeekränzchenclub innerhalb kürzester Zeit ebenfalls Bescheid wissen.
«Ich glaube schon», sagte sie lahm. «Das erzähle ich Ihnen beim nächsten Mal, ja?»
«Aber ganz bestimmt!» Rosalie winkte ihr nach, als Amelie ging.
Erst draußen vor dem Rathaus der Stadt schaute Amelie auf die Heiratsurkunde.
Ihre Eltern hatten am 12 . Mai 1976 geheiratet. Sie war im August 1979 geboren, und irgendwann im Herbst 1984 war ihre Mutter mit Amelie nach Deutschland zurückgezogen. Ebenfalls im Herbst 1984 war ihr Vater aus Pembroke fortgegangen. Seine neue Adresse war im Norden des Landes. York.
Zu weit, um mal eben dort vorbeizufahren und Hallo zu sagen.
Es war auch viel zu lange her. Wahrscheinlich lebte er dort gar nicht mehr.
Oder?
Leider war Pembroke zu klein, um einem Menschen auf Dauer aus dem Weg zu gehen.
Und es gab nur eine Apotheke.
Früher oder später musste sie also Dan wieder gegenüberstehen, wenngleich Amelie einen späteren Zeitpunkt bevorzugt hätte. Mathilda aber litt gelegentlich unter Migräne, und dann war sie zu nichts fähig, außer sich in ihr abgedunkeltes Schlafzimmer zu legen und auf die Güte eines Mitmenschen zu hoffen, der ihr ein Migränemittel aus der Apotheke holte.
Und genau das passierte an diesem Nachmittag.
Kurz überlegte Amelie, ob es wohl in Ordnung ginge, wenn sie mit dem Bus in die nächste Stadt fuhr und dort das Migränemittel holte, aber dann verwarf sie die Idee wieder, weil Mathilda sich nicht länger als unbedingt nötig quälen sollte. Sie machte sich also auf den Weg und wappnete sich unterwegs, indem sie sich vorstellte, wie das Gespräch mit Dan ablaufen würde.
Wie geht’s deiner Frau und dir?
Danke der Nachfrage, bestens.
Weiter kam sie nicht. Unvorstellbar, dass sie etwas anderes fragte. Oder dass er irgendwas sagte, das unpassend war, wenn man glücklich verheiratet war.
Natürlich hatte sie auch darüber nachgedacht: was, wenn die beiden nicht glücklich waren? Sie hatte Nächte neben Dan verbracht. Nicht unbedingt etwas, das ein verheirateter Mann mit einer Frau tun würde, wenn er nicht zumindest den Wunsch hatte, an seinem Leben etwas zu verändern. Aber wie sie es auch drehte und wendete: Amelie fühlte sich wegen der zwei Wochen in seinem Haus einfach nur schäbig. Und sie hoffte inständig, dass es ihm ebenso ging, denn das ersparte ihr letztlich die Zweifel daran, dass er ein anständiger Kerl war.
Die Apotheke war leer, als sie eintrat, und es dauerte ein wenig, bis Dan auftauchte. Er verlangsamte seine Schritte, als er sie erkannte, und blieb hinter dem Verkaufstresen stehen. Sein Blick suchte ihren, und sie schaute zu Boden.
«Ich bin wegen des Migränemittels da. Für Mathilda.»
«Ja», sagte er, «ich hol’s.»
Er holte die kleine, weiße Papiertüte mit dem Medikament von hinten und stellte sie auf den Tresen. «Hier.»
«Danke. Was bekommst du?»
Sie bezahlte, er gab ihr das Wechselgeld. Ehe sie die Hand zurückziehen konnte, packte er ihr Handgelenk. Nicht grob, sondern zögerlich. Hätte sie schneller reagiert, wäre sie ihm entwischt.
«Amy, bitte.»
«Was denn?» Ihre Stimme zitterte.
«Wenn ich dir sage, dass …»
«Dass nichts so ist, wie es scheint? Das hab ich schon bemerkt», erwiderte sie kühl. «Hör zu, ich hab keine Lust, die Rolle zu erfüllen, die du mir zugedacht hast. Ich bin nicht das kleine, unschuldige Mädchen, das du benutzen
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