Der vergessene Strand
kannst, um aus deiner Ehe auszubrechen. Und schon gar nicht bin ich die böse Nebenbuhlerin, auf die du alle Schuld abwälzen kannst. Da war nämlich nichts zwischen dir und mir, es gab nichts, das du ihr beichten müsstest, um dein Gewissen zu erleichtern.»
Diese Rede hatte sie sich schon vor Tagen zurechtgelegt, beim Streichen ihres Schlafzimmers im Strandhaus. Er starrte sie jetzt mit offenem Mund an, als habe er mit allem gerechnet, nur nicht mit so entschiedenem Widerspruch. «Das meinte ich gar nicht», erklärte er schließlich lahm.
«So? Was meintest du dann?»
Ehe er darauf antworten konnte, betrat eine Kundin die Apotheke. Amelie wandte sich so abrupt ab, als hätte sie ihn gerade heimlich umarmt. Sie stellte sich vor das Regal mit den Pflegeprodukten und wartete, bis die Kundin gegangen war.
«Es ist kompliziert», sagte er dann.
«Weißt du, das habe ich schon mal gehört», erwiderte sie scharf. «Für Michael ist auch alles kompliziert, und er bekommt jetzt zwei Kinder von zwei Frauen. Dumm nur, dass ich zwar mit ihm zusammen bin, aber die Zweite bin, die ihm seinen Herzenswunsch erfüllt, das hat ihn offenbar glauben lassen, es wäre besser, auf Sabina zu setzen. Was ihm jetzt natürlich leidtut und so weiter. Ändert aber nichts an der Tatsache, dass ich mich ziemlich austauschbar fühle. Und dasselbe machst du jetzt mit mir? Schönen Dank! Jetzt fühle ich mich wirklich wertvoll.»
Sie stürmte aus der Apotheke und lief nach Hause. Atemlos kam sie dort an, in ihrem Unterleib zog es schmerzhaft.
Sie brachte Mathilda das Migränemittel und legte sich am helllichten Tag ins Bett. Irgendwie fühlte sich ihr Leben gerade an, als wollte es nie mehr in Ordnung kommen.
Sie wachte auf, weil sie das Gefühl hatte, irgendwas übersehen zu haben. Und zwar nicht erst heute, sondern schon seit Tagen. Ihr Unterbewusstsein funkte ständig. Sie lag nach dem Aufwachen einen Moment lang mit geschlossenen Augen da und versuchte draufzukommen, was es war.
Schließlich gab sie’s auf. An Schlaf war nun nicht mehr zu denken, und sie erhob sich mühsam, ging auf die Toilette und putzte sich die Zähne. Zurück im Zimmer, setzte sie sich an den kleinen, wackligen Schreibtisch und klappte das Notebook auf.
«In meiner Badewanne bin ich Kapitän», murmelte sie. Und musste lachen – Himmel, ihr Verstand spielte ihr wirklich üble Streiche. Es stimmte also, was man sich über das Gehirn einer Schwangeren erzählte. Irgendwann taten sich Lücken auf. Bei ihr waren es wohl eher Abgründe.
Sie öffnete das Dokument, in dem sie bisher am Buchmanuskript gearbeitet hatte. Inzwischen war es mühsam, denn durch die Neuausrichtung war vieles weggefallen, ohne dass sie es tatsächlich gelöscht hatte. Ganze Passagen waren mit rot markierten Änderungen übersät, Abschnitte gestrichen, andere neu formuliert. So langsam verlor sie den Überblick.
War es das? Übersah sie ein wichtiges Detail in Annes und Beatrix’ Leben? Vergaß sie eine wichtige Frage, deren Antwort sie in eine ganz andere Richtung bringen würde?
Die nächsten zwei Stunden verschwendete sie mit der Suche im Dokument. Sie besserte ein paar Tippfehler aus, formulierte einzelne Sätze um – und trotzdem kam sie nicht drauf, was genau nicht stimmte.
Sie wollte gerade aufstehen und zum Frühstück gehen, als sie es wieder bemerkte. Dieses Gefühl … «Kapitän», murmelte sie.
Und dann begann sie, hektisch in den Unterlagen zu wühlen.
In Frannys Journal von 1913 wurde sie fündig.
«Gestern hat sich das Kind mit einem feschen Kerl verlobt. Ein Kapitän zur See, eine gute Partie, würden alle im Dorf sagen, aber ich weiß, dass es für das Kind nie genug sein wird»
, las sie sich leise vor.
Kapitän! Da war es wieder. Und ja, verdammt, jetzt wusste sie, was sie daran so sehr beschäftigte.
Sie wollte doch mal sehen, ob Jonathan Lust auf ein gemeinsames Frühstück hatte.
Mathilda hatte frische Brötchen und Croissants gebacken, und als Amelie ihr erzählte, sie wolle ihren Großvater besuchen, packte sie ein Körbchen mit den duftenden Köstlichkeiten und gab Amelie außerdem ein Gläschen mit Sauerkirschmarmelade mit. Amelie spazierte durch Pembroke und fühlte sich seit langem wieder einmal gut. Es versprach, ein angenehmer Sommertag zu werden. Und sie spürte, dass da etwas Großes darauf wartete, von ihr entdeckt zu werden. Dass sie kurz davorstand, etwas Wichtiges zu erfahren.
Jonathan schien nicht im Geringsten überrascht, sie zu
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