Der vergessene Strand
ihn hätten sie’s manchmal nicht geschafft. Finanziell und auch … Na ja. Sie waren sehr jung. Da streitet man sich wegen Nichtigkeiten.»
Susan saß am Steuer, Reginald neben ihr. Später wussten beide nicht mehr, was genau passiert war, aber als ihnen ein Lastwagen auf der Straße entgegenkam und die Kurve schnitt, wich Susan reflexartig aus. Der Wagen stürzte nicht ins Meer, sondern raste mit Vollgas über ein Feld und gegen einen Baum. Das war jedenfalls der Hergang, den die Polizei später rekonstruierte.
Susan wurde schwer verletzt. Reginald erlitt kaum mehr als einen Kratzer, wie durch ein Wunder. Patrick aber, der hinten gesessen hatte und nicht angeschnallt war, wurde durch die Wucht des Aufpralls aus dem Auto geschleudert. Man fand seinen kleinen Körper zehn Meter weiter. Er war völlig zerschmettert. Die Rettungskräfte konnten nichts mehr für ihn tun, außer, ihn ins Krankenhaus zu bringen und ihm das Sterben zu erleichtern.
«Du kannst dir nicht vorstellen, wie sehr wir daran zerbrochen sind», flüsterte Jonathan. Er zupfte ein Taschentuch aus der Hosentasche und drückte es gegen die Augen. «Deine Mutter war außer sich vor Schmerz. Sie machte sich schreckliche Vorwürfe. Dein Vater …» Er verstummte, schüttelte den Kopf. «Er nahm’s kaum besser auf. David war zu der Zeit in Cambridge. Er kam sofort heim, und …» Wieder Kopfschütteln.
Amelie legte die Hand auf seinen Rücken und streichelte ihn sanft. So viel Trauer und Schmerz … sie schluckte. Kein Wunder, dass ihr kindliches Ich die damaligen Ereignisse tief in sich verschlossen und den Schlüssel weggeworfen hatte.
Jonathan hatte sich wieder einigermaßen im Griff. «Nach dem Unfall warst du völlig aus dem Häuschen. Du hast geschrien und dich gegen jede Umarmung gewehrt. David durfte dich nicht berühren, schon hast du gebrüllt wie am Spieß. Deine Mutter lag lange im Krankenhaus, und weil David sich nicht anders zu helfen wusste, habe ich dich erst mal zu mir genommen. Du hast fünf Monate bei mir gelebt.»
Der Rest war schnell erzählt: Nachdem Susan aus dem Krankenhaus gekommen war, erkannten David und sie, dass sie nicht mehr miteinander glücklich waren. Dass der Verlust des Kindes ihnen beiden Wunden zugefügt hatte, die nicht heilen wollten, weil sie einander immer wieder an das größte Unglück ihres gemeinsamen Lebens erinnerten. Also packte Susan ihre Sachen und zog mit Amy zurück nach Deutschland.
Jonathan lernte zu vergessen. David lebte nicht mehr in Pembroke, die Familie war zerrissen, und alle Freunde zogen sich zurück. Er wurde zu einem Einsiedler, blieb lieber allein. Schon einmal hatte er alles verloren. Das wollte er kein zweites Mal riskieren. Deshalb hatte er so feindselig reagiert, als Amelie plötzlich vor ihm stand.
Das alles sprach er zwar nicht aus, doch Amelie spürte, dass es so gewesen sein musste. Dass er sich ihr deshalb erst langsam geöffnet hatte.
So viel gemeinsame Zeit war ihnen verlorengegangen …
«Was ist mit David?», fragte sie leise.
Darauf antwortete Jonathan lange nicht. Schließlich nickte er. «Professor in Cambridge. Ein angesehener Wissenschaftler auf seinem Gebiet. Er ist damals fortgezogen und nie zurückgekehrt. Ich habe ihn seit über zehn Jahren nicht mehr gesehen.»
«Warum nicht?»
«Er sagt, er sei mit dieser Familie ein für alle Mal fertig. Ich kann’s ihm nicht verdenken.»
Das verstand Amelie nicht, aber vielleicht waren nach Patricks Tod noch andere Dinge vorgefallen, über die Jonathan nicht reden wollte. Noch nicht.
«Ich danke dir», sagte sie leise. «Dass du das alles mit mir teilst. Jetzt verstehe ich manches besser.»
«Und manches braucht noch Zeit, ja.» Jonathan nickte. Er klapste sie aufs Knie und grinste. «Wie wär’s jetzt mit Abendessen? Ich könnt was vertragen.»
«Ich hab immer Hunger.» Amelie lachte. Sie standen auf und schlenderten zurück zum Ausgang. «Hast du seine Adresse?»
«Du willst ihn besuchen?»
Sie zuckte mit den Achseln. «Ja, schon. Keine gute Idee?»
«Doch, natürlich. Ich such dir seine Adresse raus.»
Amelie blieb stehen. Sie hatte das Gefühl, irgendwas vergessen zu haben. «Warte hier», sagte sie leise. So schnell sie konnte lief sie zurück zum Grab ihres Bruders. Sie kniete sich hin und ließ die Fingerspitzen über die Grashalme gleiten. «Mach’s gut, großer Bruder», flüsterte sie.
Damals hatte sie sich nicht von ihm verabschiedet, das wusste sie.
Das sollte ihr kein zweites Mal
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