Der vergessene Strand
umdrehten. Ausnahmslos jeder war sofort vernarrt in dieses Lachen und die natürliche, frische Art eines Mädchens, das vom Leben nahm, was es ihr bot.
Und dann fiel sie ihm in den Schoß, ihm, dem ernsten Wissenschaftler, der gerade erst mit seiner Promotion begonnen hatte und beständig zweifelte, ob er für das, was er sich vorgenommen hatte, auch gut genug war. Sie bestärkte ihn. Verführte ihn. Und tauschte mit ihm Adressen, als sie sich nach diesem Sommer verabschiedeten. David glaubte, sie nie wiederzusehen. Er glaubte, das sei eine Urlaubssommerepisode gewesen, wie es ihm zwar bisher nie passiert war – aber seine Freunde hatten oft davon erzählt. Sie protzten mit diesen Eroberungen.
David kehrte ins verschlafene Pembroke zurück und versuchte, Susan zu vergessen. Doch das war nicht leicht. Und keine zwei Wochen später stand sie wieder vor ihm. Sie hatte nach Frankreich auch England bereist und war bei ihm gelandet, weil sie zwar ein einundzwanzigjähriges Vögelchen war, das glaubte, es ginge nur um den Spaß im Leben – das aber schon nach wenigen Tagen erkannt hatte, wie wenig Spaß ihr das Leben ohne David machte.
Sie blieb den ganzen Sommer. Und als sie im Herbst nach Deutschland hätte zurückkehren müssen, um ihr Studium fortzusetzen, blieb sie auch. Und David war so glücklich darüber, dass er ihr einen Heiratsantrag machte.
Da war sie schon mit Patrick schwanger.
«Es war perfekt, vom ersten Tag an», sagte Jonathan leise. «Wir alle haben uns für die beiden gefreut. Man hatte nicht das Gefühl, dass ihnen etwas fehlte, obwohl sie nicht viel hatten.»
Jonathan gab dem jungen Paar das Strandhäuschen. Sie richteten es her, zogen ein, und David arbeitete weiter an der Promotion. Susan fand einen Bürojob in einer kleinen Baufirma in Pembroke und arbeitete bis kurz vor Patricks Geburt. «Als Familie waren sie noch perfekter. Jeder liebte die drei, jeder bewunderte sie. Jeder wollte mit ihnen befreundet sein.» Ein dunkler Schatten huschte über Jonathans Gesicht, als müsse er an etwas denken, das von Anfang an dieses Idyll überschattet hatte. «Nichts ist so, wie es uns erscheint. Jedes vordergründige Glück hat Risse. Wir müssen nur genau genug hinschauen.»
Amelie schwieg. Sie konnte sich kein Urteil erlauben, dafür war sie zu sehr Außenstehende.
«David war in dem folgenden Jahr viel unterwegs, fast nie daheim. Wir kümmerten uns um Susan, weil wir fürchteten, allein mit Kind daheim könnte sie einsam und unglücklich sein. Sie hatte ihr ganzes Leben für ihn aufgegeben. Und er … na ja.» Jonathan machte eine Handbewegung, die von Resignation bis Verzweiflung alles bedeuten konnte.
Keine zwei Jahre nach Patrick wurde Amy geboren. Die kleine Familie war glücklich. Susan fing schon wenige Monate nach Amys Geburt wieder an zu arbeiten. Davids Promotion dauerte länger als geplant, er haderte noch immer mit seiner Arbeit. Amelie konnte ihm nachempfinden, wie schwer das gewesen sein musste. Aber sie fragte nicht, was genau ihr Vater gemacht hatte. Jetzt wollte sie wissen, was mit Patrick passiert war.
«Es passierte 1983 . Wir hatten uns in dieses kleine, zufriedene Leben eingefunden, und ich dachte, Susan sei auch glücklich. Sie machte auf jeden den Eindruck: Sie engagierte sich bei der Gemeinde, hatte viele Freundinnen. Sie arbeitete wieder in der Baufirma im Büro, die Stelle hatte ihr damals Reginald besorgt, er war dort Geschäftsführer. Ihr Kinder wurdet von Freundinnen versorgt oder wart tagsüber bei mir in der Main Street. Alles hätte noch ewig so perfekt weiterlaufen können.
Der Unfall passierte im Herbst 1984 .»
Der Herbst war in Wales die dunkle, neblige Jahreszeit. Bei schlechten Straßenverhältnissen passierten auf den steilen Küstenstraßen oft Unfälle. Manchmal, erzählte Jonathan, fand man die Toten erst Wochen später, wenn sie an Land gespült wurden. Fußgänger und Radfahrer, die von der Straße gedrängt wurden und abstürzten. Manchmal dauerte es auch bis zum nächsten Frühling, bis man an der Steilküste, an die das Meer brandete, ein Fahrzeug bergen und die völlig entstellten Leichen endlich begraben konnte.
«Zum Glück traf das in diesem Fall nicht zu», sagte Jonathan leise.
Susan und Reginald waren unterwegs nach Hause. Patrick war bei ihnen, sie hatten ihn von der Schule abgeholt. Reginald war damals oft bei der Familie; er war, so nannte Jonathan es, wie ein Vater für die Kinder, wie ein bester Freund für Susan und David. «Ohne
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