Der vergessene Strand
spät in der Nacht, und ich würde dich ja zum Strandhaus bringen, aber …» Er zeigte auf die Weinflaschen.
«Mein Bruder ist tot», brach es aus ihr hervor. «Ich hatte einen Bruder, an den ich mich gar nicht erinnern kann, und er ist vor über fünfundzwanzig Jahren bei einem Autounfall gestorben. Darum wollte Jon nicht mit mir sprechen. Darum hat meine Mutter mir verschwiegen, dass ich aus Pembroke komme. Sie haben mich heimatlos gemacht. Ich hatte einen Bruder und wusste bis heute nichts von ihm.»
«Du fühlst dich beraubt.»
«Ich weiß nichts mehr von der Zeit vor meinem fünften Geburtstag. Alles weg.» Sie machte eine hilflose Geste. «Meine Mutter will nicht darüber reden. Und mein Großvater hat es erst heute zugegeben. Und ich frage mich …»
«Du fragst dich, warum das so ist. Warum deine Eltern sich damals so sehr entzweit haben.»
«Jon sagt, meine Mutter habe sich Vorwürfe gemacht, weil sie am Steuer saß. Und mein Vater … er konnte es auch nicht verwinden, dass ihm der Sohn genommen wurde.»
«Und was glaubst du?»
Vermutlich mochte sie Dan auch deshalb so gerne. Weil er die richtigen Fragen stellte. Fragen, die piksten und wehtaten. Aber es waren auch Fragen, die sie auf die richtige Fährte brachten.
«Du hättest einen guten Historiker abgegeben, weißt du das?», fragte sie.
Er lachte.
«Aber die Frage ist berechtigt.»
Man muss sie nur anders stellen, überlegte Amelie. Warum hatte ihr Vater, der so glücklich gewesen war, den Kontakt zu ihrer Mutter und damit zu ihr, Amelie, so vollständig abgebrochen? Oder war das von ihrer Mutter ausgegangen? Das konnte sich Amelie nicht vorstellen. Es sei denn, die Schuldgefühle zerfraßen ihre Mutter noch heute. Irgendwann müsste sie doch den Schmerz überwunden haben, dass sie den Sohn durch eigenes Verschulden verloren hatte. Und dann wäre sie theoretisch bereit gewesen, Amelie den Zugang zu ihrem Vater zu gewähren, oder?
Vielleicht steckte mehr dahinter. Wie schon bei ihren Recherchen zu Anne und Beatrix musste sie erkennen, dass nichts im Leben tatsächlich so war, wie es auf den ersten Blick zu sein schien.
«Lass uns ins Bett gehen.» Dan stand auf und streckte ihr die Hand hin. Amelie nahm sie und folgte ihm. Durch den Flur, die Treppe hinauf in sein Schlafzimmer. Erst dort zog er sie an sich und hielt sie fest. Er gab ihr Wurzeln, und sie lehnte den Kopf an seine Schulter und genoss einfach nur, dass er keine Fragen stellte oder Antworten verlangte.
Vorsichtig begann er, sie auszuziehen. Amelie half ihm, und dann zerrte sie ungeduldig an seinem T-Shirt. «Nicht», flüsterte er. Seine Hände glitten nach oben. «Lass uns schlafen.»
«Ja», flüsterte sie.
Er kleidete sie aus, bis sie im Slip vor ihm stand. Sein Blick glitt über ihren Körper, und es gab nichts, weshalb sie sich unsicher fühlte oder schämte. Beinahe andächtig fuhr er mit einer Hand über die kaum sichtbare Wölbung ihres Bauchs.
«Stört es dich?», flüsterte Amelie.
«Nein.» Er schüttelte entschieden den Kopf.
Danach zog auch er sich bis auf die Boxershorts aus, und sie schlüpften unter die kühle Bettdecke. Amelie schmiegte sich in seine Umarmung, und seine Hand ruhte beschützend auf ihrem Bauch. Sie spürte seinen Atem in ihrem Nacken, einen zarten Kuss, mehr nicht.
«Wir haben uns nicht die Zähne geputzt», murmelte sie.
Danach war sie schon eingeschlafen.
Neben ihm aufzuwachen, war im ersten Moment ein Schock. Dabei war sie im Traum bei ihm gewesen. Tatsächlich hatte sie die ganze Nacht davon geträumt, neben ihm zu schlafen. Oder bildete sie sich das nur ein?
Mit einem Ruck fuhr Amelie hoch. Dan lag wach neben ihr, er hatte sie beobachtet. «Guten Morgen», sagte er leise.
Sie nickte abwesend. «Guten Morgen», flüsterte sie. «Ich geh duschen.»
Sie sprang aus dem Bett und musste sich einen Moment am Bettpfosten festhalten, weil ihr schwindelig wurde. Dann lief sie ins angrenzende Badezimmer, schloss sich ein und sank erschöpft auf den Klodeckel. Ihr Herz hämmerte aufgeregt.
Der gestrige Tag steckte ihr noch in den Knochen, und auch die kurze Nacht – es war erst Viertel vor sechs, als sie aus der Dusche stieg. Amelie trocknete sich ab und lief zurück ins Schlafzimmer. Sie hatte eine Entscheidung getroffen und wollte sich jetzt nicht mehr davon abbringen lassen.
«Wo willst du hin?», fragte Dan. Er hatte sich aufgesetzt und beobachtete, wie Amelie sich in aller Eile anzog.
«Ich suche meinen Vater», erklärte
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