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Der vergessene Strand

Der vergessene Strand

Titel: Der vergessene Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Peters
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spürte Grandpas Hände, die sie niederdrückten. Sie schaute auf ihre Schuhspitzen, die schwarzen Lackschuhe, die Mom ihr so lange verboten hatte. Grandpa war gestern losgegangen und hatte sie gekauft, weil Amy keine schwarzen Schuhe hatte. Aber jetzt wollte sie sie gar nicht mehr haben.
    «Hat er Angst?», fragte sie flüsternd. Der Pfarrer war verstummt, und so hatte jeder ihre Frage gehört. Hinter ihnen vernahm sie ein unterdrücktes Schluchzen, und es dauerte, bis Amy begriff, dass nicht einer der vielen Freunde der Familie da weinte, sondern ausgerechnet Grandpa. Der sonst nie weinte, niemals.
    «Nein», flüsterte er. «Du weißt doch, dein Bruder hatte niemals Angst.»
    «Amy? Hörst du mich, Amy?»
    Eine Hand rüttelte sanft ihre Schulter, und Amy schrak hoch. Sie hockte auf einer Bank und hatte keine Ahnung, wie sie hierhergelangt war. Vor ihr stand Jonathan und beugte sich schwerfällig zu ihr herunter. «Amy.»
    «Es geht schon wieder.» Sie versuchte, die Erinnerungen abzuschütteln, die so plötzlich über sie gekommen waren. Bilder, Gerüche, ja sogar Geräusche glaubte sie, in der Erinnerung nachhallen zu spüren. «Er ist tot», flüsterte sie; staunend wie ein Kind, das die Welt entdeckte. Und irgendwie traf das auch zu, denn sie hatte wieder ein Stück ihrer Erinnerung zurückgewonnen. Und das hieß, dass jene Erinnerung im Krankenhauszimmer ihrer Mutter nicht bloß Reaktion auf eine frühere Erfahrung war, sondern eine konkrete Erinnerung.
    «Meine Mutter war nicht bei der Beerdigung», sagte sie. «Warum?»
    Jonathan ließ sich schwerfällig neben sie auf die Bank sinken. «Sie konnte nicht. Sie lag im Krankenhaus, und es ging ihr sehr schlecht.»
    Amelie nickte. Ja, das passte. Und ihr kindliches Ich hatte die Ereignisse von damals danach gut weggeschlossen. Und alle Erinnerungen an ihren älteren Bruder gleich mit, weil sonst immer die Frage geblieben wäre, was mit ihm passiert war.
    «Schaffst du’s?», fragte Jonathan besorgt. «Zu seinem Grab, meine ich.»
    Amelie nickte. Sie stand auf.
    «Wir können auch zurückgehen, wenn es dir zu viel wird.»
    «Nein», erwiderte sie. «Ich hab ihn seit fast dreißig Jahren nicht besucht. Ich finde, das war lang genug.»
    Sie kannte den Weg jetzt, und sie hörte Jonathans Schritte hinter sich. Er blieb dicht hinter ihr, während sie zielstrebig voranlief. Da war das Grab. Inzwischen nicht mehr bepflanzt, nur ein bisschen Rasen war ausgesät. Der helle Grabstein war wunderschön.
    Sie blieb lange davor stehen und blickte auf dieses Grab.
Patrick Bowden. 1977 – 1984 .
    «Es passierte zwei Wochen vor seinem siebten Geburtstag», sagte Jonathan leise. «Er hatte sich so darauf gefreut. Wir hatten ihm versprochen, nach London zu fahren.»
    Sie kniete sich hin. Zupfte ein paar Blätter vom Grab, stellte die Stockrosenblüten in eine kleine Vase. Darin standen noch ältere Stockrosen. Amelie schaute zu Jonathan hoch.
    «Ich komm her, sooft ich kann.» Er räusperte sich. «Ich … du bist mir hoffentlich nicht böse, weil ich das hier so lange vor dir geheim gehalten habe. Deine Mutter … Sie will das so.»
    «Du hast mit Mama Kontakt?» Gedankenverloren strich Amelie über das kurze Gras. Sie versuchte, die richtigen Worte zu finden.
Hallo, großer Bruder. Tut mir leid, dass ich so lange nicht hier war.
    «Sie ist eine echte Nervensäge, wenn du das meinst. Ja.»
    «Auch in den letzten Wochen?»
    «Gerade in den letzten Wochen. Ich wusste, dass du kommen würdest, ehe du das überhaupt wusstest. Ständig rief sie an. Ihre größte Sorge ist wohl, dass du alles wissen willst.»
    «Und?», fragte Amelie nach langem Schweigen. «Erzählst du mir alles?»
    «Darum sind wir hier.»
    Sie gingen zur nächstgelegenen Bank und setzten sich hin.
    Und dann begann ihr Großvater zu erzählen.
    Sie waren ein glückliches Paar, vom ersten Tag an bis zu ihrer Trennung. Das schickte Jonathan vorweg, denn er wollte nicht, dass Amelie den Eindruck gewann, er versuche, ihre Mutter schlechtzumachen.
    Was geschehen war, hatten beide zu verantworten – David und Susan, gemeinsam.
    Sie lernten sich im Sommer 1976 in Frankreich kennen. Susan war für den schüchternen, fünfundzwanzigjährigen David wie ein Wirbelsturm, sie fegte regelrecht über ihn hinweg, eroberte ihn, ließ ihm gar keine andere Wahl, als sich in diese rothaarige Deutsche zu verlieben, die mit einem Interrailticket und einer Freundin durch Europa tourte. Nach der sich die Männer am Strand von La Rochelle

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