Der vergessene Strand
eher seine Art.»
Viel hatten sie sich nicht mehr zu sagen, und Amelie verabschiedete sich bald. Sie musste ihm versprechen, ihn wieder zu besuchen, und das tat sie gern. Sie mochte David. Er war nicht ihr Vater, aber er war das, was am nächsten an einen Vater herankam.
Auf dem Rückweg fuhr sie besonders langsam. Der Linksverkehr und ihre Müdigkeit machten ihr ziemlich zu schaffen, und die acht Meilen zurück nach Pembroke zogen sich. Sie hätte vor Erleichterung am liebsten geweint, als sie in die Main Street einbog.
Als sie die Apotheke betrat, unterbrach Dan sofort sein Verkaufsgespräch. «Amy!», rief er. Die Kunden drehten sich zu ihr um. Sie winkte ab. «Es ist nichts», beteuerte sie, obwohl sie ziemlich wacklig in den Knien war. Dan kam gerade noch rechtzeitig, um sie auf den Stuhl zu schieben, auf dem sonst die alten Damen saßen, denen er die Stützstrümpfe anpasste.
«Das sehe ich, dass nichts ist. Ich hol dir ein Glas Wasser.»
Die Kundinnen machten ihm Platz. Sie beäugten Amelie misstrauisch. Dan brachte ihr ein Glas Wasser und wartete, bis sie es brav geleert hatte. «Besser?»
Sie nickte.
«Ich bring dich gleich nach oben. Warte hier.»
Fast hätte sie gelacht. Wo sollte sie denn hin mit ihren weichen Knien und so zittrig, wie sie war? Weglaufen war keine Option.
Dan kümmerte sich um seine Kunden, obwohl er immer wieder besorgt in ihre Richtung schaute. Es dauerte zehn Minuten, dann war die Apotheke leer. «Also los!», meinte er und umfasste ihren Arm. Amelie wollte protestieren, dass sie doch keine alte Frau sei, aber offensichtlich war das nicht ganz richtig, denn sie wäre fast in das Regal mit der Sonnenmilch gefallen, wenn Dan nicht beherzt zugegriffen hätte.
«Wo warst du?», wollte er wissen.
«Bei meinem Vater», sagte sie leise. Sie hatten die Wohnung erreicht. Nur zu gern hätte sie sich jetzt in Dans Bett gekuschelt, aber dafür hätte sie weitere fünfzehn Stufen hochsteigen müssen, und dazu fühlte sie sich absolut nicht in der Lage. Also ließ sie sich ins Gästezimmer führen und plumpste ziemlich unelegant aufs Bett. Dan zog ihr die Schuhe aus und half ihr aus der Strickjacke. Fürsorglich deckte er sie zu, und sie schloss die Augen. Das Letzte, was sie bemerkte, war, wie er auf leisen Sohlen noch einmal hereinkam und ein Glas Wasser aufs Nachtkästchen stellte.
«Was wirst du jetzt tun?», fragte Dan sie am Abend.
Sie hatte drei Stunden geschlafen, und als sie aufwachte, saß Dan auf der Bettkante und beobachtete sie. Er schwieg lange, und sie sagte auch nichts, bis er schließlich die Frage stellte.
Amelie hatte noch nicht darüber nachgedacht. Sie wusste ja nicht mal, weshalb sie hergekommen war. «Ich muss mit meiner Mutter reden», sagte sie schließlich.
Der Gedanke kam ihr eher spontan, aber es stimmte: Sie konnte die Vergangenheit nicht für sich abschließen, solange sie nicht die Version ihrer Mutter kannte. Es war leicht, sie zu verurteilen wegen der Dinge, die geschehen waren – aber Amelie war Historikerin. Sie musste alle Seiten beleuchten, ehe sie eine Wertung vornehmen konnte.
«Wirst du dann auch Mr. Amelie sehen?»
«Ich weiß es nicht.»
Seit sie im Strandhaus lebte, war sie nur traurig und müde. Sie war
einsam
, und die Vorstellung, mit dieser Einsamkeit im Herzen nach Berlin zu fahren, machte ihr Angst. Was war, wenn Michael die richtigen Worte fand?
«Soll ich mitkommen?»
«Ich schaff das allein», versicherte sie ihm. Im Moment sah es ja auch so aus, als würde sie fürs Erste allein bleiben. Auf Michael konnte sie sich nicht verlassen. Auf Dan wollte sie noch nicht zählen. Zu sehr hatte seine persönliche Situation bei ihr alles durcheinandergebracht.
«Ich bin für dich da. Und jetzt komm, ich hab uns was gekocht.»
Es gab diese Menschen, die immer das Richtige sagten, und Dan gehörte eindeutig dazu.
Es gab gegrillte Steaks mit Kräuterbutter, buntem Salat, Knoblauchbrot und viel Schweigen, und endlich war es wieder das von der guten Sorte. Das, in das sie sich einhüllen konnte. Dan war fürsorglich wie eh und je. Er brachte ihr eine Decke, ehe sie überhaupt merkte, dass sie fror. Und als es dunkel wurde, zündete er auf dem Balkon wieder die Windlichter an, die leise flackerten. Er holte sich noch ein Glas Wein, für sie eine Flasche Ginger Ale und Eiswürfel für ihr Glas. Das sanfte Klirren der Würfel, das Zirpen der Grillen und ein gelegentliches Motorengeräusch auf der Main Street, die Schreie der
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