Der vergessene Strand
reden.»
«Ja, das hab ich mir gedacht.» Sie setzte sich aufs zweite Sofa, und die Tassen klapperten in ihren Händen. Sie zittert, erkannte Amelie. Vielleicht war es das, was sie gebraucht hatte – ein Zeichen von Schwäche bei ihrer Mutter.
«Ich hab David kennengelernt.»
«Deinen Vater.» Das Lächeln war unsicher.
«Nein. Er ist nicht mein Vater, das wissen wir beide. Und ich war auch am Grab. An Patricks Grab.»
Das Schweigen war nur eine Winzigkeit zu lang.
«Beinahe hätte ich dir von ihm erzählt. Mehr als einmal», fügte ihre Mutter hastig hinzu. «Aber dann hast du aufgehört, nach ihm zu fragen, und ich dachte wohl … na ja. Für mich war es so einfacher.»
«Du hast ihn mir weggenommen. All die Jahre hat mir was gefehlt.»
«Ich weiß. Einmal, da warst du sieben und in der zweiten Klasse. Deine beste Freundin Britta lud zu ihrem Geburtstag. Sie hatte einen Bruder, viel älter als ihr alle, er hieß … Lutz. Ja, Lutz. Er hatte sich wenige Wochen zuvor umgebracht, und es war für deine Freundin die erste Party nach seinem Tod. Ihre Mutter hatte sich viel Mühe gegeben, sie wollte ein Stück Normalität zurückgewinnen. Aber als ich dich abends abholte, nahm sie mich beiseite und war sehr blass. Du hättest behauptet, auch dir wäre ein Bruder gestorben, aber das sei lange her und man vergesse das auch. Britta hat daraufhin geweint, es muss für sie der schlimmste Geburtstag ihres Lebens gewesen sein. Mir war das schrecklich peinlich, und ich habe dir den Umgang mit ihr verboten, weil ich mir anders nicht zu helfen wusste.»
Amelie konnte sich an die Party erinnern. Sie hatten im Garten Schatzkisten gesucht, und in ihrer waren ein oranger Flummi mit Glitzer gewesen und ein Bleistift, der nach Erdbeeren roch.
Daran, wie sie Brittas Geburtstag gesprengt hatte, erinnerte sie sich nicht. Aber sie wusste noch, wie kurz darauf die Freundschaft einschlief.
Vielleicht war das der Grund.
So vieles ergab in der Rückschau Sinn, wenn man die Fakten kannte.
Amelie atmete tief durch. «Ich möchte, dass du mir alles erzählst. Von Reginald. Von deinem Leben in Pembroke. Einfach alles.»
Ihre Mutter wirkte erstaunt. «Ich denke, David wird dir genug erzählt haben. Oder Jon; er hielt nie große Stücke auf seinen Bruder.»
«Jon hat nicht viel dazu gesagt. Und mich interessiert deine Seite. Nicht die von David.»
«Also gut.» Ihre Mutter nickte. «Ich hoffe, du hast viel Zeit mitgebracht.»
Zeit hatte sie. Aber hatte sie auch die nötige Kraft?
Susanne war ein Glückskind, von Anfang an. Geboren an einem Sonntag, geliebt von den Eltern, die kurz vor dem Mauerbau in den Westteil Berlins flohen. Ihr Vater war viel unterwegs und verdiente gutes Geld. Ihre Mutter war streng und liebte sie sehr.
Die Probleme begannen, als sie dreizehn war. Der Vater war zu fern, und sie verliebte sich stattdessen unsterblich in ihren Lehrer. Auf dem alten Damenrad ihrer Mutter fuhr sie ihm nach Schulschluss hinterher. Einmal schlich sie sich sogar in seinen Garten und hockte stundenlang unter dem Rhododendron, während es in Strömen regnete und er im Haus am Schreibtisch saß und Arbeiten korrigierte. Sie stellte sich vor, wie er sie hereinbat, ihr einen heißen Kakao mit Sahne kochte und sie in seinem Bademantel auf dem Sofa saß. Weiter reichte ihre Phantasie nicht.
Ihre Eltern fanden bald heraus, wo sie sich nachmittags herumtrieb, es setzte ein paar Ohrfeigen, und sie bekam vier Wochen Hausarrest.
Mit sechzehn verliebte sie sich erneut, diesmal in einen Künstler. Wieder war er viel älter als sie, und wieder war sie zu unschuldig, um sich mehr auszumalen. Sie posierte für ihn als Aktmodell. Als er versuchte, ihre Brüste zu streicheln, schrie sie das ganze Hinterhaus zusammen. Danach sah sie ihn nie wieder.
Ihr Erfahrungsschatz mit Männern war also eher begrenzt, als sie mit zwanzig auf die Europareise ging. Sie hatte ihren Eltern diese Reise nach dem Abitur abgetrotzt, bis diese schließlich widerstrebend eingewilligt hatten. Sie war acht Wochen mit ihrer Freundin Vera unterwegs, die so vernünftig und brav war. In Frankreich dann die Begegnung mit David und seinem Kumpel. Die vier saßen an den Lagerfeuern, sie knutschten wild, und nachts beanspruchten Vera und Steve das eine Zelt. So blieb für David und Susanne nur das zweite, sonst hätten sie unter freiem Himmel schlafen müssen.
Sie fand nichts dabei, mit ihm unter einem Zeltdach zu schlafen, und irgendwie fand sie ihn auch süß mit seinen
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