Der vergessene Strand
Einheimischen am Tisch und fachsimpelte über eine englische Adelige, die Anfang des 20 . Jahrhunderts ihre vielbeachteten, geradezu skandalösen Memoiren veröffentlicht hatte, die schon wenige Wochen nach Erscheinen komplett ausverkauft waren und nie nachgedruckt wurden?
«Man vermutet ja, dass Beatrix’ Mann die Bücher gekauft und vernichtet hat.» Cedric Tewdwr mochte sich gar nicht von dem schmalen Bändchen trennen. «Und das haben Sie einfach so gefunden? In einem Antiquariat?»
«Nein.» Amelie atmete tief durch. «Im Bücherschrank meiner Mutter. Ich habe keine Ahnung, wie es dort hingelangt ist, aber seit ich es das erste Mal gelesen hatte, konnte ich mich nicht mehr von der Geschichte dieser unglaublich starken Frau lösen. Und sehen Sie, hier.» Amelie schlug eine Seite auf, die für sie zu den wichtigsten Stellen im Buch gehörte. «Was sie über ihren Mann schreibt.»
«
Henry hat mir nie das Gefühl gegeben, mehr wert zu sein als die anderen Frauen meines Stands. Ich blieb daheim, zog die Kinder groß und erduldete all seine Demütigungen, ohne mich davon brechen zu lassen. Er war mir gewissermaßen immer ein guter Ehemann. Dennoch gerieten wir oft in Streit, weil er mir nicht zugestehen mochte, was er sich nahm
», las Mr. Tewdwr vor. Er pfiff durch die Zähne. «Meine Güte! Und das zu der Zeit …»
«Sie muss unglaublich stark und selbstbewusst gewesen sein.»
Eine Weile saßen sie schweigend voreinander. «Dass Sie das im Bücherschrank gefunden haben …» Mr. Tewdwr schüttelte den Kopf.
Amelie ärgerte sich ein bisschen, weil sie ihm so freimütig davon erzählt hatte. Er war für sie im Grunde ein Fremder, und sie für ihn ebenso. Ein Mittagessen begründete ja noch keine Freundschaft. Was wusste sie schon über ihn?
«Vielleicht hat sie es mal auf einem Flohmarkt gefunden, und der Vorbesitzer wusste nicht, was es wert ist.» Sie packte es zurück in die Tasche und trank den Kaffee aus. «Ich lade Sie ein, Mr. Tewdwr. Okay?»
Sie wusste selbst, wie ruppig das klang, aber sie hatte das unschöne Gefühl, zu viel von sich preisgegeben zu haben. Mathilda kam an den Tisch, und Amelie zahlte die Rechnung. Mr. Tewdwr beobachtete sie mit verschränkten Armen.
«Das ist sehr wichtig für Sie», sagte er schließlich.
«Was, das Buch?»
«Die ganze Geschichte. Sie sind schließlich deshalb hier. Pembroke ist nicht gerade das typische Urlaubsziel für junge Leute.»
Amelie antwortete nicht. Sie standen auf und verabschiedeten sich von Mathilda. Draußen blieb Amelie stehen. «Ich glaube, ich geh noch ein bisschen spazieren», sagte sie. «Den Kopf freikriegen.»
«In einer halben Stunde macht die Bücherei wieder auf.» Mr. Tewdwr schien ihr nicht böse zu sein. Er lächelte entschuldigend, als wollte er sagen: Ich weiß, ich bin dir grad zu nahe getreten, aber ich bin nicht der Typ, der sich für so was entschuldigt.
Während er nach links Richtung Common Road davonging, wandte Amelie sich nach rechts. Sie überquerte die Straße und tauchte in eine der Seitenstraßen ein. Die Häuser standen hier dicht gedrängt, als fröstelten sie im kühlen Seewind. Die Straße führte in einem Bogen über eine Brücke hinweg zum Mill Pond, einem kleinen Ausläufer des Meers. In der Ferne konnte sie Pembroke Castle erahnen, aber Amelie ging in die andere Richtung, weiter ins Landesinnere. Sie wusste nicht, was sie trieb. Sie wusste nur, dass irgendwas sie weitergehen ließ.
Sie kam an einem kleinen Supermarkt vorbei, am indischen Restaurant und einem Mobilfunkladen. Die kleinen Häuser wirkten schmaler und ein bisschen verfallener als daheim in Deutschland. Die Vorgärten waren gepflegt, die Haustüren und Fensterläden bunt gestrichen. In den Blumenkästen blühte es üppig.
Sie musste an ihre Kindheit denken. Erinnerungen, die sie jahrelang verschüttet geglaubt hatte, stiegen auf und verwirrten sie. Eine Nacht im Dunkeln ihres Kinderzimmers, während im Wohnzimmer ein fremder Mann mit ihrer Mutter sprach. Ihre Mutter, die noch Tage danach tobte und so viel Alkohol trank, dass Amelie es mit ihren fünf Jahren mit der Angst zu tun bekam. Sie wusste nicht, was genau der Alkohol mit ihrer Mama machte, aber sie wusste, dass es nicht gut war.
Dann die guten Tage, an denen ihre Mutter fröhlich und ausgelassen war, an denen sie wieder Mut fasste. Wenn sie Amelie zum Kindergarten brachte und sie mittags wieder abholte. Wie sie den ganzen Weg nach dem Stoffkätzchen absuchten, das Amelie vom
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