Der vergessene Strand
sitzen, war im Moment so ziemlich das Letzte, was sie wollte.
Mathilda betrieb keinen Pub, sondern ein kleines Café, und sie servierte den Tee mit winzigen Sandwiches auf Spießchen und herbsüßen Küchlein auf einer Étagère und dazu eine leckere, scharfe Suppe mit Fleisch und viel Gemüse. Danach war Amelie ziemlich warm. Sie rauchte mit Cedric noch eine. «Nennen Sie mich nicht noch mal Mr. Tewdwr, sonst verstecke ich alle Bücher!», schimpfte er, und sie fühlte sich diesmal etwas leichter im Kopf und weniger schwer im Herzen. Also erzählte sie ihm von ihrem Buchprojekt.
Cedric hörte gespannt zu und stellte kluge Fragen. Er wollte nicht wissen, wen das interessieren könnte oder warum sie extra aus Deutschland herkam, um so ein Buch zu schreiben. Nein, er fragte, wer denn die Briefe der Lambton-Schwestern haben könnte und wie Amelie darauf gekommen war.
Dafür musste sie etwas weiter ausholen.
Aus der Umhängetasche zog sie ein dünnes Buch, das sie oft bei sich trug, und legte es zwischen ihnen auf den Tisch. Mathilda kam und räumte die leeren Suppenschüsseln ab. «Noch einen Kaffee?», fragte sie, und beide nickten. Mathilda schwebte davon.
Amelie hatte sie sich ganz anders vorgestellt. Sie hatte an einen verrauchten Pub und eine alte, dickliche Frau gedacht, die Bier zapfte und Hausmannskost servierte. Nichts davon hatte gestimmt: Das Café war hell und freundlich, mit plüschigen Sesseln und Spitzendeckchen, die so knapp an großmütterlichem Muff vorbeischrammten, dass es wieder kultig war. Und dann Mathilda: höchstens Mitte zwanzig, eine Elfe mit schwarzen Haaren, einer winzigen Lücke zwischen den Schneidezähnen und Augen, die so hell waren, dass man das Grün darin kaum sah.
«Das hier», sagte Amelie langsam, «hat mich auf die beiden Lambtonschwestern gebracht. Beziehungsweise auf Beatrix. Anne interessiert mich gar nicht so.»
Cedric nahm das Buch. Seine Hand fuhr prüfend über den speckigen Ledereinband, ehe er es andächtig aufschlug. Büchermenschen erkannte man sofort daran, wie sie ein Buch in die Hand nahmen.
«Woher haben Sie das?»
«Es ist mir … zugefallen.» Alles musste er ja auch nicht wissen. Außerdem war es lange her.
«War einfach da?» Cedric zwinkerte ihr zu.
Mathilda brachte zwei alte Porzellantassen, so durchscheinend zart, dass Amelie fast fürchtete, sie könnten zerbrechen, wenn sie sie fest anfasste. Auf dem Unterteller lag ein winziges, grünes Macaron. Der Kaffee war stark und klein und nach dem Essen genau das Richtige. Sie knabberte das Macaron und seufzte.
«Wenn ich hier häufiger hinkomme, geh ich völlig aus dem Leim.»
Cedric warf ihr einen flüchtigen Blick zu. «Schadet Ihnen nicht.» Dann widmete er sich wieder dem Buch. «Ich verstehe aber, was Sie meinen.»
Amelie schwieg. Wie sollte sie auch erklären, dass sie als Elfjährige an den Bücherschrank ihrer Mutter gegangen war, dieses wohlsortierte Heiligtum, aus dem sie sich zwar nehmen durfte, wonach ihr der Sinn stand, aber nur, wenn sie um Erlaubnis fragte. Und dass sie dieses Buch herausgezogen hatte, versteckt hinter all den anderen. Amelie hatte es in ihr Zimmer gebracht und unter dem Bett versteckt, hatte es nachts hervorgeholt und darin gelesen, ohne auch nur ein Wort davon zu verstehen. Erst viele Jahre später hatte sie begonnen zu begreifen, worum es ging.
«Mh», machte Cedric. Er drehte das Buch behutsam hin und her, strich über den Lederrücken und die geprägten Goldbuchstaben. «Guter Erhaltungszustand. Ich hab früher als Antiquar gearbeitet», fügte er erklärend hinzu. «Als sich damit noch Geld verdienen ließ, weil die Leute nicht alles in diesem Internet suchten. Also, dieses Buch hier», er legte es zwischen ihnen auf den Tisch, «dürfte so, wie es hier vor mir liegt, ein kleines Vermögen wert sein.»
«Ich weiß», sagte Amelie leise. «Aber ich verkauf es nicht.» Denn streng genommen gehörte es noch immer ihrer Mutter. Sie hatten nie darüber gesprochen, dass Amelie es genommen hatte. Vielleicht war es ihrer Mutter auch gar nicht aufgefallen, dass es fehlte.
«Es wurde damals in einer sehr limitierten Auflage gedruckt.» Mr. Tewdwr streichelte es liebevoll. «Darf ich noch mal?»
«Bitte.» Amelie trank ihren Kaffee und lehnte sich entspannt zurück. Wer hätte gedacht, dass sie in Pembroke so schnell Anschluss finden würde? Ausgerechnet sie, die sich sonst nie unter Leute wagte, saß schon am ersten Tag in einer fremden Stadt mit einem
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