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Der vergessene Strand

Der vergessene Strand

Titel: Der vergessene Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Peters
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blieb sie vor der Bücherwand stehen. Wer Bücher besaß, noch dazu so viele, konnte kein schlechter Mensch sein, fand sie. Auch die Auswahl gefiel ihr: eine gesunde Mischung aus Klassikern, aktuellen Krimis und einer ordentlichen Portion Literatur. Sie entdeckte Jonathan Franzen und Jeffrey Eugenides, beide zerlesen, offenbar nicht nur angeschafft, um das Regal zu zieren. McEwan. Julian Barnes.
    Lebte er eigentlich allein? Einen Ring trug er nicht, und der Wohnung fehlte es an den kleinen, weiblichen Details. Keine Blumen auf dem Tisch, kein Dekokram auf der Fensterbank, nur ein vereinsamter Kaktus mit einer vertrockneten, orangefarbenen Blüte.
    Andererseits war auch sie nicht der Typ Frau, der überall sofort verkitschte Blumenübertöpfe auf Fensterbänken platzierte oder einen Kranz vor die Wohnungstür hängte. Das musste also nichts heißen.
    Zufrieden plumpste sie aufs Sofa. Dan lief vom Gästezimmer in die Küche, er fragte, ob sie etwas trinken wolle. Sie folgte ihm und blieb in der Küchentür stehen.
    «Tee wäre schön.»
    «Ich habe Kräutertee.»
    Auch in der Küche gab es ein Sofa an der Wand. Um den Tisch standen sechs Stühle, jeder sah anders aus. Einer war rot lackiert, einer notdürftig abgeschliffen, die weiße Farbe erkannte man noch. Zwei weitere hatten Samtbezüge und waren dunkelbraun, daneben ein Korbsessel mit Lammfell, und der letzte Stuhl war ein hochmodernes Exemplar, vermutlich einer von der Sorte, die eigene Namen hatten, aber die teuren, nicht die von IKEA . Sie setzte sich auch hier aufs Sofa. Die Küche war aus hellem Holz und sah aus, als habe er sie selbst geschreinert. Vielleicht stimmte das sogar. Er brühte Tee auf, holte aus dem Kühlschrank einen Berg Gemüse und begann zu schnippeln. Irgendwann verschwand er kurz, kam wieder und schaltete das Radio ein. Sanfte Klassik waberte durch den Raum, sie schloss die Augen und wärmte ihre immer kalten Finger an dem Steingutbecher. Der Kräutertee war mit Honig gesüßt, roch herb und heuig, schmeckte aber erstaunlich gut.
    Es gab Menschen, mit denen man nicht schweigen konnte. Dan gehörte nicht dazu. Auf dem Tisch lag ein Stapel Bücher, den Amelie heranzog und durchblätterte – zwei historische Sachbücher waren darunter, das interessierte sie natürlich –, während er schnippelte, einen großen Topf auf den Herd stellte, kramte und kochte. «Ich hoffe, du magst rote Linsen?», fragte er.
    Hätten sie deutsch gesprochen, hätte er ihr jetzt vielleicht das Du angeboten.
    Sie lächelte. «Sehr.»
    «Schön scharf?»
    «Schön scharf.»
    Mehr sagten sie nicht. Amelie schaltete ihr Handy ein. Dreizehn Anrufe in Abwesenheit blinkten auf, alle von derselben Nummer, die sie auswendig kannte, seit sie als studentische Hilfskraft an der Uni angefangen hatte: Michaels Büronummer.
    Er hatte auch auf die Mailbox gesprochen, aber sie hatte keine Lust, sich das anzuhören. Leere Versprechungen, Beteuerungen … nein, es war genug.
    Dass er sie nicht von seinem Handy oder von zu Hause aus anrief, hieß im schlimmsten Fall, dass die Andere ihn kontrollierte. Aber offensichtlich war sie auch nicht mehr im Krankenhaus, denn die dreizehn Anrufe waren alle um die Mittagszeit erfolgt, innerhalb einer Stunde. Er konnte für eine Stunde an die Uni gefahren sein, «Unterlagen holen, danach bin ich ganz für dich da», während Sabina auf dem Sofa lag, die Augen geschlossen und erschöpft von den Strapazen ihrer Schwangerschaft.
    Amelie wollte sich das alles gar nicht ausmalen, aber es war wie früher, als sie sich Geschichten erzählte, wenn sonst niemand da war. Weil ihre Mutter arbeitete, weil Amelie daheim blieb, nur in der Nähe eine ältere Nachbarin, die einmal in der Stunde klopfte und fragte, ob alles in Ordnung sei.
    Sie hatte früh gelernt, selbständig zu sein, aber das hatte sie dann in den Jahren mit Michael systematisch wieder verlernt. Diese Reise hatte sie nur angetreten, weil es eine Flucht war. Unter anderen Umständen hätte sie es nie nach Wales geschafft, schon gar nicht allein.
    «Ach, Michael», seufzte sie und schaltete das Handy wieder aus. Ob er bereute, dass er sich die Andere so schnell ins Haus geholt hatte? Oder hatte er gar keine andere Wahl gehabt, weil sie sich so schnell eingenistet hatte?
    Unsinn. Sie war nicht bei ihm eingezogen, Punkt. Es brachte doch nichts, wenn Amelie sich jetzt deswegen verrückt machte, zumal sie doch selbst nicht wusste, ob sie weiter mit Michael zusammenbleiben wollte oder

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