Der vergessene Strand
du morgen verschwindest? Ich meine, nicht dass sie morgen früh irgendwie …»
Sie wollte nichts Gemeines sagen, wollte der Anderen nichts Böses an den Hals wünschen.
«Einen Rückfall erleidet? Ich habe es ihr nicht gesagt, nein. Amelie, bitte. Ich will mit dir zusammen sein. Das alles ist so schrecklich unglücklich gelaufen, und es tut mir wirklich leid. Lass es mich wiedergutmachen, ja?» Er klang jetzt flehend.
Sie konnte sich vorstellen, wie er sich in ihrem Zimmer auf den Swopper gesetzt hatte. Wie er mit den Fingern über den leeren Schreibtisch fuhr und auf ihre Pinnwand starrte, auf der sie all die Notizen und Zettel zu ihrem Buchprojekt sammelte.
«Du bist so ein Feigling, Michael.» Sie legte auf, ohne Gruß, ohne irgendwas. Ich bin schwanger, ich darf das, dachte sie wütend, und weil sie es irgendwie endgültig machen wollte, löschte sie seinen Eintrag aus ihrem Adressbuch, löschte seinen Nachrichtenverlauf und hätte am liebsten gleich noch alle E-Mails gelöscht, die sie jemals von ihm bekommen hatte.
«Ich hab uns ein Sandwich gemacht.»
Sie fuhr herum. «Wie lange stehst du schon da?» Der Wechsel in die Fremdsprache fiel ihr leicht, als habe sie das schon immer gemacht.
«Weiß nicht. Zu lange, nehme ich an. Tut mir leid.»
Sie erwiderte nichts, sondern folgte ihm in die Küche. Auf dem Tisch stand ein großer Teller mit dreieckigen Sandwichs – Käse mit Tomate und Salat, Thunfisch mit Frischkäse, Kochschinken mit Gürkchen. Sie machte sich hungrig darüber her, während Dan den Tee einschenkte und sich zu ihr aufs Sofa setzte. Amelie konzentrierte sich ganz aufs Kauen, Schlucken, Trinken. Bloß nicht nachdenken.
«In dem Buch, das ich gerade schreibe», begann sie plötzlich, «geht es um eine junge Britin Ende des 19 . Jahrhunderts. Sie war sehr unabhängig. Sie verwaltete ihr eigenes Vermögen, legte die Erziehung ihrer Kinder in die Hände fähiger Lehrer, die sie selbst auswählte. Sie engagierte sich für die Armen und unterstützte zahlreiche Waisenhäuser. Das war damals alles nicht ungewöhnlich, viele Frauen fanden Erfüllung darin. Aber Beatrix Lambton war anders. Sie begann, sich auch politisch zu interessieren. Ein bisschen ähnelte sie darin Georgiana Spencer. Vielleicht hast du den Film gesehen.»
Dan lachte leise. «Ich habe die Biographie von Amanda Foreman gelesen. Reicht das?»
Sie musste ebenfalls lachen. Die meisten Leute, denen sie versuchte, die Grundlage ihres Buchs zu erklären, konnten mit Georgiana Spencer nichts anfangen, doch sobald Amelie von dem Kinofilm mit Natalie Portman sprach, wussten die meisten Bescheid. Es tat gut, mal jemanden zu treffen, der nicht aus dem wissenschaftlichen Betrieb kam und trotzdem schon von der Duchess of Devonshire gehört hatte.
«Jedenfalls, meine Beatrix. So freiheitsliebend war sie, aber sie hat sich von ihrem Mann auf der Nase herumtanzen lassen. Er hatte zahllose Liebschaften, mehrere Bastarde, die er ohne Skrupel seiner Ehefrau aufbürdete, die diese auch noch aufzog, während er sich weiterhin mit anderen Frauen vergnügte. Ausgedehnte Reisen, teurer Lebenswandel – das alles gönnte er sich. Das war für die damalige Zeit nicht ungewöhnlich, aber ich habe mich immer gefragt, warum sie das getan hat. Warum sie stillgehalten hat.» Dan nahm den Quilt von der Sofalehne und breitete ihn über Amelies Beine. Sie hockte im Schneidersitz neben ihm und merkte erst jetzt, dass sie zitterte.
«Ich hab eine Zeitlang gedacht, es hat sie einfach nicht gekümmert. Sie hatte ihr eigenes Geld, ihre Unabhängigkeit, und Liebe war es wohl nicht, was die beiden verband. Für die damalige Zeit absolut normal. Aber je länger ich recherchiere, je mehr ich herausfinde …» Sie kaute an ihrer Unterlippe und schmeckte plötzlich Blut.
Sie selbst war alles andere als unabhängig. Sie hatte keine nennenswerten Ersparnisse, und der Buchvertrag schien nur eine Option zu sein. Was sollte sie danach tun? Das nächste Buch schreiben? Sie sah sich schon allein in einer kleinen Sozialwohnung sitzen, den ganzen Tag das Kind bespaßen und auf das monatliche Geld von Michael warten.
Oder sie kehrte zu ihm zurück, reumütig oder mit hoch erhobenem Haupt, das kam ganz drauf an, wann und unter welchen Umständen. Aber dann wäre sie vielleicht gar nicht so anders als Beatrix, die sich mit ihrem Mann arrangierte. Hatte sie unter seinen Affären gelitten? Amelie konnte sich nicht vorstellen, dass es sie kaltgelassen hatte. Vielleicht war
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