Der vergessene Strand
hielt davon nicht viel. Diana würde glauben, dass eine metaphysische Kraft sie hergeführt hatte. Für ihre Freundin gab es für alles eine richtige Zeit und einen guten Grund. Man musste sich nur darauf einlassen.
Für Amelie als bekennenden Kontrollfreak war dieses «Sicheinlassen» eher beängstigend. So war es auch mit diesem Zufall, dass sie ihren Großvater gefunden hatte.
Sie erzählte Dan von der Begegnung. Wie Jonathan ihr das Foto geschenkt hatte. Von ihrer Wanderung zum Strand.
«Es war wie eine Heimkehr. Und darum war es richtig, nicht mit Michael nach Hause zu fahren.»
«Und was fängst du jetzt damit an? Mit diesem Wissen und deiner Vergangenheit?»
Sie zuckte mit den Schultern. «Vielleicht», sagte sie langsam, «möchte ich jetzt noch einen Schritt weiter gehen. Meinen Vater ausfindig machen. Ich glaube, ich habe zu viele Fragen, um einfach wieder nach Hause zu fahren.»
Erneut dieses wohltuende Schweigen. Amelie kramte in der Erdnussschale. Sie hatte absolut keine Disziplin. Immer, wenn sie intensiv nachdachte, aß sie. Und sie dachte oft intensiv nach.
«Was macht das Buch?»
Sie lachte. «Das hab ich fast vergessen», gab sie zu.
«Ich auch», gab er zu. «Heute Nachmittag war Mrs. Elswood hier, aber da warst du unterwegs.»
Amelie gähnte. «Wer ist Mrs. Elswood?»
«Peggy Elswood. Die Dame vom Heimatverein, die dir vielleicht bei deiner Arbeit helfen kann. Ich hab sie auf morgen vertröstet. Wahrscheinlich wird sie also schon kurz nach neun wieder vor der Tür stehen. Sehr resolut, die älteren Damen von Pembroke.»
Amelie gähnte wieder, diesmal hinter vorgehaltener Hand. «Dann sollte ich wohl lieber ins Bett gehen. Herrje, wie kann man nur so müde sein», schimpfte sie.
«Na, dafür gibt’s ja einen schönen Grund.» Seine Stimme klang verhalten. Als Amelie aufstand und die Decke zusammenlegte, erhob er sich ebenfalls und räumte den Tisch ab.
Sie wünschten sich im Flur eine gute Nacht. Im Wohnzimmer und in der Küche brannte noch Licht. Aus beiden Räumen fielen warme Lichtkeile in den dunklen Flur. Dans Gesicht lag im Schatten, und als Amelie sich gerade von ihm abwenden wollte, streckte er die Hand nach ihr aus. Eine winzige Bewegung, die sie vielleicht gar nicht bemerkt hätte, wenn sie nicht insgeheim auf etwas in der Art gehofft hätte. Ihre Hand suchte seine, und dann trat er einen Schritt auf sie zu. Eine breite Brust, eine starke Schulter, gegen die sie die Stirn lehnte. Sie atmete tief durch und spürte, wie alle Anspannung sich löste. Seine Hände ruhten auf ihrem Rücken, bewegten sich langsam auf und ab, ein tröstliches Streicheln, das die Tränen fließen ließ. Es war, als streichelte er alle Trauer, Erschöpfung, Verwirrung und Angst aus ihr heraus.
Dan machte leise, beruhigende Laute. Er ließ ihr Zeit. Fünf, sechs, acht Minuten standen sie so beisammen, bis die Zeit ihre Bedeutung verlor.
Als die Tränen versiegt waren, hob sie den Kopf. Jetzt hatte sie bohrende Kopfschmerzen, das war immer so, wenn sie heftig geweint hatte. «Danke», flüsterte sie. Sie wusste nicht, wohin mit sich, nahm die Hände von seinen Schultern und stand mit hängenden Armen vor ihm. Er ließ sie ebenfalls los und sah sie prüfend an. Dann berührte seine Hand ihre, die Finger verflochten sich ineinander. Amelie schloss die Augen und schüttelte den Kopf.
Nicht.
Er verstand und ließ sie los.
Erst als sie die Tür hinter sich schloss, bemerkte sie das Zittern. Ihr Körper bebte und schüttelte sich, und das lag nicht daran, dass ihr kalt war. Sie riss das Fenster auf und beugte sich weit vor. Es regnete. Schwer klatschten die Tropfen von der Dachtraufe in ihr Gesicht und wuschen die Tränen kühl von ihren Wangen.
«Verdammt, verdammt, verdammt», flüsterte sie.
Die Nacht blieb stumm.
Vielleicht war sie Diana doch ähnlicher, als sie geglaubt hatte. Kaum trat sie hinaus in die Welt, war da jemand, der ihre Hand nahm. Der in ihr dieses Kribbeln weckte, an das sie sich gar nicht mehr erinnern konnte, dieses Gefühl, das sie auch am Beginn ihrer Beziehung mit Michael gehabt hatte.
Nur der Reiz des Neuen, dachte sie. All die Ereignisse der letzten Woche hatten sie emotional ordentlich durchgeschüttelt. Kein Wunder, dass sie jeden rettenden Strohhalm ergriff. Dass sie sich bei ihm ausheulte, weil er eben da war und sie festhielt. Weil er nichts von ihr verlangte. Er bot sich ihr auf eine so schüchterne und dennoch deutliche Art an, dass sie fast schwach geworden
Weitere Kostenlose Bücher