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Der vergessene Strand

Der vergessene Strand

Titel: Der vergessene Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Peters
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Stunde.
    Sie hob jetzt den Blick, faltete die Karte zusammen und nahm die atemberaubend schöne Atmosphäre ganz in sich auf. Steil und zerklüftet fielen die Felsen zu ihrer Linken ab, und darunter brandete das Meer friedlich gegen die Felsen. Ihr wurde trotzdem mulmig, als sie an die Felskante trat und nach unten schaute. Sie warf den Apfelbutz in hohem Bogen ins Meer und beobachtete, wie die Möwen herabstießen und sich lärmend um den Leckerbissen stritten.
    Fraßen Möwen Apfelgehäuse? Wie wenig man doch über die Welt wusste, wenn man mit offenen Augen draufloslief und sich auch jene Fragen gestattete, die auf den ersten Blick ganz einfach klangen.
    Sie lief jetzt nicht mehr so schnell, denn die Sonne schien und wärmte ihre nackten Arme. Die salzige Luft stieg ihr zu Kopf. Warum hatte sie sich eigentlich tagelang in der Bibliothek vergraben?
    Mit jedem Schritt veränderte sich die Landschaft. Nur wenige Wanderer kamen ihr entgegen und nickten ihr zu. Man trat höflich beiseite, um den anderen passieren zu lassen. Amelie genoss die Einsamkeit. Hier konnte sie endlich nachdenken. Sich sortieren. Vielleicht sogar entscheiden, was gut war für sie.
    Das Gefühl, dass sie angekommen war, überfiel sie ganz plötzlich. Sie war stehengeblieben, um einen Schluck Wasser zu trinken. Inzwischen war sie seit knapp einer Stunde unterwegs, und ihr Körper, der sich selten so viel bewegte, machte sich inzwischen bemerkbar. Ihre Oberschenkel brannten vom ständigen Auf und Ab auf dem Küstenweg, und sie war ein wenig außer Atem. Als sie sich umschaute, entdeckte sie einen knorrigen, alten Baum – eine Kiefer? –, der sich an die Felsen klammerte, als fürchte er, im nächsten Moment abzustürzen.
    Sie war richtig hier. Sie erkannte den Baum. In der Nähe musste der Strand sein.
    Sie lief zu der Kiefer. Nicht weit entfernt fand sie den Pfad wieder, weiter unten lag das Meer. Hier fiel die Felskante nicht ganz so steil hinab, und direkt am Felsen erstreckte sich ein kleiner Sandstrand.
    Sie wusste, dass hier vor vielen Jahren das Foto aufgenommen worden war, das sie jetzt bei sich trug. Vorsichtig machte sie sich an den Abstieg. Unten angekommen holte sie den Bilderrahmen aus dem Rucksack und hielt ihn vor den steilen Abhang aus Fels und mit Seehafer bewachsenem Sand. Aber es war schwer zu ergründen, wo genau sie damals gestanden hatten – Wind und Wetter hatten im Laufe der Zeit die Landschaft verändert.
    Irgendwann gab sie es auf. Früher war sie jedenfalls hier gewesen. Das wusste sie.
    Es war genau wie bei der blauen Tür. Sie erinnerte sich an diese Orte, sobald sie davorstand. Es war ihr, als sei sie tatsächlich als Kind durch den Sand getobt und habe mit ihren Eltern gespielt. Und doch fehlte ihr jede Erinnerung daran. An diesen Strand sowieso, aber auch an ihren Vater oder an denjenigen, der das Foto damals aufgenommen hatte – sie vermutete, dass es Jonathan gewesen war. Alles hatte sich verändert, immerhin lagen knapp dreißig Jahre dazwischen, und trotzdem erkannte sie die Umgebung wieder. Sie war hier nicht nur im Urlaub hergekommen. Vermutlich hatte sie hier gelebt. Es war ein inniges Wiedererkennen, wie man es nur an Orten verspürt, die einst Heimat gewesen sind.
    Aber warum um alles in der Welt konnte sie sich an gar nichts erinnern? Warum waren, sosehr sie sich auch den Kopf zerbrach, kein Ereignis, keine Erinnerung da an die Zeit vor ihrem fünften Geburtstag? Sollten Kindheitserinnerungen nicht weiter zurückgehen?
    Sie dachte an Diana. Mit ihr hatte sie vor vielen Jahren einmal auf dem Balkon gesessen, als sie beide noch studierten und gemeinsam eine winzige Wohnung mit zwei Schlafzimmern, einer Pantryküche im Flur und einem vier Quadratmeter großen Bad bewohnten. Sie hatten gekocht und gegessen, bis spät in die Nacht billigen Wein getrunken und über alles geredet. An diesem Abend hatten sie gemeinsam überlegt, welches ihre älteste Kindheitserinnerung war. Diana behauptete, sie könne sich noch gut daran erinnern, wie sie mit drei Jahren mit ihrem Vater das erste Mal in den Zoo gegangen sei. Dass es der erste und gleichzeitig der letzte Zoobesuch mit ihm war, hatte sie damals noch nicht gewusst. Nur wenige Monate später starb er an Krebs. («Krebs ist ein Arschloch», sagte Diana bei jeder sich bietenden Gelegenheit.)
    Dieser Zoobesuch hatte sich tief in Dianas Gedächtnis eingebrannt, die Erinnerung einer Dreijährigen, die sich in die Pinguine verliebte und um den Tiger weinte, der in

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