Der vergessene Strand
erklärte sie lässig und schob den Teller mit dem riesigen Stück Schokoladentorte etwas von sich. Es war schon das dritte Stück, das Mrs. Elswood ihr aufgetan hatte. Sie ignorierte einfach, dass Amelie bereits mehrfach erklärt hatte, sie habe genug Kuchen gehabt. Insgeheim hatte sie schon darauf gewartet, wann die ersten neugierigen Fragen kamen. Angriff war hier sicher die beste Verteidigung.
Vielleicht waren die Damen vom Heimatverein auch weniger an der Heimatgeschichte interessiert, sondern vielmehr an den Geschichten jener, die ihre Heimat besuchten? Amelie beschloss, die Initiative zu ergreifen.
«Ich weiß gar nicht, wie sie früher so war. Bevor sie von hier fortging, meine ich.» Treuherzig blickte sie die Frauen nacheinander an, die plötzlich alle irgendwelche nicht vorhandenen Krümel zusammenfegten oder Sahne in den Tee rühren mussten. «Zumal ich gar keine Erinnerung an meine Zeit hier in Pembroke habe.»
Das weckte das Interesse der vier. Zwei Schildkrötenköpfe ruckten hoch, und die bleistiftstrichdünnen Augenbrauen von Mrs. Elswood versuchten, Bekanntschaft mit ihrem Haaransatz zu machen.
«Ach!», sagte Ruthie Fenwick. «Wirklich nicht?»
Amelie schüttelte den Kopf.
«Wirklich schade», murmelte Rosalie Tremayne. Und ihre Schwester Edith nickte und fügte hinzu: «Ein Jammer.»
«Sie waren ein so niedliches Mädchen, Amy. Wir haben Sie alle geliebt. Und Ihr …» Rosalie verstummte, weil Edith ihr unter dem Tisch auf den Fuß trat.
«Ja?», hakte Amelie nach. Wenn sie schon hier war und sich neugierige Fragen gefallen ließ, konnte sie auch versuchen, aus der Situation das Beste zu machen. Und das hieß: diese schwatzhaften Damen ein bisschen auszuhorchen. Vielleicht brachten sie Amelie auf eine neue Fährte, an einen neuen Ort, wo ein Erinnerungspuzzleteil auf sie wartete.
Seit sie vorgestern am Strand gewesen war, träumte sie intensiver. Oder nein, sie wusste, dass das nicht die korrekte Formulierung war; jeder Mensch träumte, jede Nacht. Nur konnte sie sich jetzt besser an ihre Träume erinnern, und der Strand spielte darin eine nicht unwesentliche Rolle.
Heute Nacht hatte sie dort ihren Vater getroffen. Zumindest glaubte sie das, denn er hatte im Traum mit dem Rücken zu ihr gestanden, und sie hatte, als sie ihn ansprach, gleichzeitig Angst und unbändige Freude empfunden.
«Ach, Amy möchte bestimmt nicht diese alten Geschichten hören, nicht wahr? Sie sind doch hier, weil Sie sich für die Lambton-Schwestern interessieren.» Ruthie Fenwick riss das Gespräch geschickt an sich. Mrs. Elswood stand auf und ging zu dem wuchtigen Bücherschrank an der Stirnseite des Raums.
«Es ist schön, dass Sie über die beiden schreiben», sagte sie. Der Bücherschrank hatte Buntglastüren, und dahinter standen dicke, in Leder gebundene Bücher. Der Schlüssel knirschte im Schloss, die Türen quietschten. Mrs. Elswood nahm einen kleinen Bücherstapel heraus und trug ihn zum Tisch.
«Das habe ich aus dem Stadtarchiv», sagte sie und legte die vier Bücher auf den Tisch.
Amelie runzelte die Stirn. «Aber ich habe die letzten Wochen schon im Stadtarchiv recherchiert. Ich dachte, ich hätte so langsam alles über die beiden herausgefunden?»
«Sicher nicht alles.» Mrs. Elswood tat geheimnisvoll. «Wie viel wissen Sie über Annes Aufenthalt hier in Pembroke?»
«Sie kam 1896 her, nachdem sie eine Affäre mit einem mächtigen Mann hatte. Und sie blieb ungefähr ein knappes Jahr, ehe sie nach London zurückkehrte. Später hat sie wohl geheiratet, aber sie ist nie nach Pembroke zurückgekehrt.»
«Ha!», machte Edith. Drei Augenpaare starrten sie an, und sie versank im Sofa und versteckte ihr gerötetes Gesicht hinter der winzigen Porzellantasse.
«Das ist nicht richtig», erklärte Mrs. Elswood sanft. «Hier. Das sind die Tagebücher ihres Dienstmädchens.»
Sie schob den Stapel über den Tisch. Es waren in Leder gebundene Kladden, keine Bücher. Die Seiten waren im Laufe der Zeit oder von unsachgemäßer Lagerung aufgequollen. Amelie öffnete den obersten Band. Die Schrift war winzig, rund und deutlich zu lesen.
«‹Den 7 . Mai 1903 . Das Kind hustet, und ich habe Angst, zum Arzt zu gehen, weil er schlechte Neuigkeiten haben könnte. Immer die Angst um dieses Kind!›», las sie.
«Franny war die gute Seele. Erst für Anne Lambton, später für den Pfarrer am Ort. Wir durften sie alle noch kennenlernen, sie starb erst 1965 », sagte Mrs. Elwood.
«Ihre Orangenmarmelade war
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