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Der vergessene Strand

Der vergessene Strand

Titel: Der vergessene Strand Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julie Peters
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seinem Gehege so traurig aussah.
    Amelies früheste Erinnerung war, wie sie mit fünf durch die leeren Räume der Berliner Wohnung lief, in der ihre Mutter noch heute lebte. Sie waren gerade hergezogen. Was davor war, wusste sie nicht. Sie hatte sich schon damals gewundert, warum es kein Davor gab – und dann schließlich akzeptiert, dass jeder Mensch einen anderen Erinnerungshorizont hatte.
    Aber jetzt fragte sie sich, ob es einen bestimmten Grund gab, warum sie sich nicht an die Zeit davor erinnern konnte.
    Was war damals passiert?
    Nur zwei Menschen konnten ihr diese Frage beantworten. Aber beide wollten nicht mit ihr darüber reden.
    Amelie schaute aufs Meer. Was sollte sie tun? Konnte sie überhaupt etwas tun? Oder war es nicht besser, die Vergangenheit ruhen zu lassen?
     
    Zwei Stunden später kam sie zurück. Ihre Beine kribbelten und brannten, sie hatte Durst und war hundemüde. Nachdem sie in der Küche ein großes Glas Wasser getrunken hatte, schlurfte sie ins Gästezimmer und warf sich in voller Montur aufs Bett.
    Sie schaffte es gerade noch, die Mails auf dem Smartphone zu lesen. Diana hatte sich gemeldet. Noch mehr Schafgeschichten, und ein «rattenscharfer» Schäfer kam auch darin vor, mit dem sie wohl schon ein paar Nächte verbracht hatte. Amelie gluckste. Typisch Diana, dass sie sofort wieder einen Kerl aufgabelte. In ein paar Tagen würde sie laut überlegen, ob sie in Neuseeland bleiben könnte, für immer. Um dann, in ein paar Wochen, auf den Kerl zu schimpfen, der ja völlig bindungsunfähig sei.
    Das war Dianas Muster: Sie hatte Liebschaften. Nie etwas Ernstes, nie etwas, das tiefer ging oder ihre Komfortzone überschritt. Sie erholte sich von den Enttäuschungen so schnell, wie sie kamen. Nach ein paar Wochen wich der Groll einem verklärten «Ach, mit ihm war’s auch schön!». Diana konnte mit vielen Männern glücklich sein. Aber keiner vermochte sie auf Dauer an sich zu binden.
    Vielleicht war einfach noch nicht der Richtige dabei gewesen. Vielleicht aber war Diana auch selbst nicht die Richtige für eine dauerhafte Bindung.
    Amelie hatte lange mit sich gerungen, ehe sie Michael und sich eine Chance gab. So war es bei jedem Mann gewesen, und viele waren es vor ihm nicht gewesen.
    Jetzt stand sie kurz davor, ihn zu verbannen.
    Sie legte das Smartphone auf ihre Brust. Bevor sie den nächsten Gedanken fassen konnte, schloss sie die Augen und war sofort eingeschlafen.
    Abends kochte Dan wieder (Curry, Naanbrot, Hühnchen), und sie futterte so viel, dass sie glaubte, nie mehr vom Sofa hochzukommen. Dan trank indisches Bier dazu, für Amelie gab es Limonade. Später kochte er in einer Kanne grünen Tee. Sie tranken ihn im Wohnzimmer. Amelie war ausgelassen. Sie kicherte und genoss es, für den Moment alle Gedanken an die Vergangenheit ihrer Familie oder die Zukunft mit Michael von sich schieben zu können.
    Dan machte Musik an. Stimmgewaltig füllten Nick Cave und Rufus Wainwright den Raum, Musik, in die man sich einrollen wollte. Die Welt draußen wurde schon dunkel, aber hier drin war es warm und das Licht golden. Sie war satt und einfach nur damit zufrieden, nicht allein zu sein.
    «Wolltest du nicht zurück zu Mr. Amelie?»
    Dan stellte ein Schüsselchen mit gesalzenen Erdnüssen zwischen sie auf den Tisch. Amelie merkte, dass sie ausgerechnet darauf gerade einen wahren Heißhunger hatte, obwohl sie erst vor einer halben Stunde eine riesige Portion Curry verdrückt hatte.
    «Er musste wieder nach Berlin. Vorlesungen halten, seine Mitarbeiter antreiben, so was.» Sie vermutete eher, dass er versucht hatte, sie unter Druck zu setzen. Er hätte diese Vorlesung sicher ausfallen lassen und später nachholen können. Wollte er aber nicht.
    «Ich war noch nicht so weit.»
    Sie schwiegen, und weil Amelie das Gefühl hatte, sich erklären zu müssen, fügte sie leise hinzu: «Es ist kompliziert.»
    «Das ist es leider viel häufiger als einfach.»
    Sie verfielen wieder in jenes wohltuende Schweigen, das Amelie schon an ihrem ersten Abend hier so gefallen hatte. Es forderte nichts.
    «Ich habe heute meinen Großvater kennengelernt», sagte sie unvermittelt. «Jonathan Bowden. Er ist mein Großvater!»
    «Was für ein irrer Zufall!»
    Das Komische war, dass Dan es gestern schon angedeutet hatte. Natürlich konnte das Leben einem Zufälle vor die Füße werfen. Aber dieser Zufall war zu irr. Zu groß, um wirklich Zufall zu sein. Fast wäre Amelie versucht gewesen, von Schicksal zu reden, aber sie

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