Der vergessene Strand
herausgefunden. Anne und ihre Schwester hielten sich in den wenigen überlieferten Briefen seltsam bedeckt – meist war von «er» die Rede oder von G- oder dem Duke of G-. Leider nicht besonders hilfreich.
Dennoch, die Tagebücher von Franny waren ein kleiner Schatz, und sei es nur aus alltagshistorischen Gründen. Sie holte sich aus dem Kühlschrank ein Glas frischen Eistee und begann zu lesen.
Am frühen Abend kam Dan zurück. Er ging direkt nach oben in sein Schlafzimmer, und sie hörte das Rauschen der Dusche. Danach war alles still, und sie vertiefte sich wieder in ihre Lektüre. Dass er nicht wenigstens Hallo gesagt hatte, lag bestimmt daran, dass er sie noch bei Mrs. Elswood vermutete, redete sie sich ein.
Ihr Verhältnis hatte sich nach der Nacht auf Freitag etwas abgekühlt. Sie waren vorsichtig geworden – beide. Amelie war am Freitagmorgen mit einem emotionalen Kater aufgewacht; sie war schon im Morgengrauen hellwach, während er noch neben ihr schlief, eine Hand unter die Wange geschoben.
Sie hatte ihn betrachtet. Und dann war sie aufgesprungen, hatte ihr Bettzeug gepackt und war nach unten gegangen. In ihrem Schlafzimmer war es kalt, die Matratze war kalt, alles war kalt, und sie hatte zitternd eine Stunde lang unter der Decke gelegen und konnte nicht wieder einschlafen. Und als sie Dan hörte, der sich oben regte, schickte zur gleichen Zeit Michael eine Textnachricht und wünschte ihr einen guten Morgen, er sei gut in Berlin angekommen, nachdem er die ganze Nacht gefahren sei.
Sie musste weinen, und sie fühlte sich richtig, richtig mies. Dabei hatte sie nur – ganz brav! – neben jemandem geschlafen, der tröstend ihre Hand gehalten hatte. Weil sie Gewitter so schrecklich fand.
Aber was blieb, war eben dieses Gefühl, versagt zu haben. Sie war nicht besser als Michael, sie warf sich sofort irgendeinem Kerl an den Hals, wenn sich die Gelegenheit bot. Wie konnte sie ihm daraus noch länger einen Vorwurf machen?
Seitdem war Dan auf Distanz gegangen, oder sie war auf Distanz gegangen, und er ließ ihr den Platz. So genau wusste sie das selber nicht. Es ergab sich auch so recht kein Gespräch, in dem sie ihn hätte fragen können, wer da eigentlich wen auf Distanz hielt.
Er kam wieder nach unten, ebenfalls barfuß, mit Jeans und schwarzem T-Shirt. Seine Haare waren noch nass.
«War die Wanderung gut?», rief sie vom Balkon.
Dan holte den Krug mit Eistee aus dem Kühlschrank und brachte Gläser mit. Schenkte erst ihr, dann sich ein, stellte den Krug auf das Balkontischchen und sank seufzend in den zweiten Deckchair. «Herrlich. Ich bin den Küstenweg Richtung Osten gelaufen. Wusstest du, dass unweit deines Strands ein Häuschen steht? Sieht verlassen aus, aber wenn man das herrichten könnte …»
Amelie schüttelte den Kopf. Das Häuschen war ihr tatsächlich entgangen.
«Es ist sehr hübsch, mit Schindeldach und Wänden, die früher mal weiß waren. Bestimmt ein Wochenendhäuschen. Ich zeig’s dir, wenn du das nächste Mal mitkommst.»
Wenn sie mitkam. Sie spürte die Frage, aber sie hatte keine Lust, darauf zu antworten.
«Wir könnten heute Abend grillen», setzte Dan nach.
«Mh», machte sie nur.
«Magst du mir erzählen, was dein Besuch bei Mrs. Elswood ergeben hat?»
«Ach, es war … durchwachsen.» Amelie klappte das Tagebuch zu und legte es zu den anderen auf den Tisch. «Die Tagebücher von Annes Dienstmädchen, immerhin. Leider nicht alle und leider keine aus dem für mein Buch relevanten Zeitraum.»
«Aber es geht doch gar nicht um Anne?»
Das war noch so ein Problem. Ursprünglich war ihre Biographie ganz auf Beatrix ausgelegt gewesen, auf deren Kampf um ihre eigene Emanzipation. Doch je länger Amelie sich mit Beatrix’ jüngerer Schwester Anne beschäftigte, umso interessanter erschien ihr deren Schicksal. Sie grub immer tiefer und fand neue, faszinierende Details, zum Beispiel eine Lebensmittelrechnung aus dem Herbst 1896 . Demzufolge hatte Anne große Mengen Ingwerkekse bezogen – vermutlich auch, um ihre Schwangerschaftsübelkeit damit zu bekämpfen. Amelie fühlte sich Anne sehr nah. Sie waren beide in Pembroke gestrandet, beide waren sie schwanger, und sie wussten nicht, wie ihre Zukunft aussehen würde.
Von Anne wusste Amelie, dass sie später wieder in ihr altes Leben zurückgefunden hatte. Doch was wurde aus ihr? Würde sie zu Michael zurückgehen? Er hatte sie gestern angerufen, und sie hatten eine halbe Stunde geredet. Es war ein gutes Gespräch
Weitere Kostenlose Bücher