Der vergessene Strand
Bücher, die er ihr ins Exil schickte. Das Briefpapier und die Rosenseife, an der sie jeden Abend schnupperte. Das Konfekt, das sie nur mit Bedacht naschte. Elise glaubte, ihre Schwester sei einfach sehr um Anne besorgt, und das vermeldete sie vermutlich auch nach London.
So weit hatten sie sich also eingerichtet in dem kleinen Häuschen mit Salon und Küche, Wohnstube und den beiden Zimmern für Anne im ersten Stock und der Kammer für Elise unterm Dach. Genug Platz, und doch wieder nicht, denn Anne bekam bei den niedrigen Decken und der Enge Beklemmung.
Anne hatte Franny an einem stürmischen Tag im Oktober direkt oben auf den Klippen aufgriffen, wo das Meer unterhalb der dreißig Meter hohen Steilwand toste und der Wind drohte, sie mit der nächsten Bö in den Abgrund zu reißen.
«Davon wird’s nicht besser!», schrie Anne gegen den Sturm an.
Sie wusste nicht, ob Franny sie hörte, aber wenigstens tat das Mädchen einen halben Schritt zurück. Anne näherte sich ihr, sie packte Frannys Arm und hätte sie fast verloren, weil sie so heftig zusammenzuckte, dass sie beinahe doch noch in den Abgrund gestürzt wäre und Anne mit sich gerissen hätte. Doch Franny taumelte zurück, ging zu Boden und riss Anne mit sich.
«Herrje!», rief Franny. «Das wollt ich nicht, M’lady, das tut mir so leid!»
Sie waren beide im Dreck gelandet. Franny sah man nichts an, ihr Kleid war mausbraun und unscheinbar, der Mantel grau und speckig. Doch als Anne sich erhob, war ihr dunkelblauer Samtmantel völlig verdreckt. Sie fluchte leise. Da musste sie sich von Elise bestimmt einiges anhören. Manchmal fragte sie sich, wer von ihnen eigentlich die Herrin war.
«Ich helf Ihnen auf, warten Se!» Franny hatte eine zupackende Art, und sie stellte Anne wieder auf die Füße. Als sie jedoch anfing, Annes Mantel abzuklopfen, arbeitete sie den Schlamm nur tiefer ins Gewebe. «Halt!», rief Anne lachend.
Franny brach in Tränen aus. «Ich wollt’s doch nur richtig machen, ich bin aber auch zu ungeschickt. Kein Wunder, dass mich keiner haben will, wo ich so ungeschickt bin.»
«Wer sagt denn so was?» Sie tat Anne leid. Freimütig erzählte Franny Anne ihre Geschichte. Sie sei schon früh von zu Hause fortgelaufen, der Vater habe ihr nicht wohlgetan. Sie habe sich verschiedentlich verdingt, und eigentlich sei es ihr nicht allzu schlecht ergangen, bis sie letztes Jahr einem Dienstherrn begegnet war, der die Hände nicht bei sich behielt. Das war nicht weiter schlimm, ein bisschen Wärme konnte ihr nicht schaden, doch dass die Herrin sie kurz darauf verjagte, hieß für Franny auch, dass sie ohne Zeugnis keine neue Anstellung fand.
«Und wieso hast du da draußen auf der Klippe gestanden?», wollte Anne wissen.
«Weil’s so schön stürmte. Und ich dachte halt, wenn mich eh keiner braucht, kann ich genauso gut verschwinden.»
Das Gefühl konnte Anne gut nachempfinden. Spontan bot sie ihr daher an, zu ihr zu kommen.
«Aber ich kann doch nix!»
«Für mich wird’s schon reichen.»
Schon bald sollte sich herausstellen, dass Franny sehr wohl eine Menge konnte. Sie schuftete, schleppte Holz und wusch Wäsche, machte all die körperlichen Arbeiten, für die Elise sich zu fein war. Außerdem war sie eine recht passable Köchin und verstand was von Gartenarbeit. Sie machte das Bauerngärtchen winterfest, erntete den letzten Kohl und die Rüben. Anne staunte.
Was ihr aber am meisten wohltat, war Frannys pragmatische Art, eine Schwangerschaft anzugehen. Sie packte Anne nicht in Watte. Tägliche Spaziergänge gehörten ab jetzt ebenso zu ihrem Programm wie drei warme Mahlzeiten. Halbleere Teller, die Elise bisher allenfalls mit einem missbilligenden Kopfschütteln quittiert hatte, ließ Franny ihr nicht durchgehen. Tatsächlich übernahm sie das Regiment über Küche und Haushalt bald so gründlich, dass zumindest für Elise kaum mehr zu tun blieb, als regelmäßig nach London zu berichten, dass die junge Herrin sich wohlbetrug und auch das Schwermütige sie langsam verließ.
Doch mit Fortschreiten der Schwangerschaft geschah noch etwas anderes.
Anne begann nachzudenken. Über ihre Zukunft und die Zeit nach der Geburt des Kindes.
Die Vorstellung, G-s Kind wegzugeben, in fremde Hände, die es dann aufzogen, war für Anne allzu schrecklich. Nein, das durfte sie nicht zulassen, und sie wusste, auch er wäre dagegen. In ihren Briefen, die sie ihm inzwischen über Bee zukommen ließ, sprach sie nicht davon – sie waren viel zu sehr damit
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