Der vergessene Strand
gewesen. Er hatte ihr erzählt, dass Sabina – wenn sie diesen Namen hörte, musste Amelie immer hart schlucken, doch sie ertrug diesen Teil des Gesprächs, weil sie eben über die Andere reden
mussten
– in seiner Abwesenheit versucht habe, sich im Haus einzunisten.
«Hatte sie denn den Schlüssel?», fragte Amelie.
«Ja. Von mir. Ich habe einen Fehler gemacht», gab Michael offen zu. «Ich habe ihr ein zweites Mal vertraut.»
Seine Offenheit tat ihr gut. Noch immer schmerzte sein Fehltritt, aber es fühlte sich nicht mehr so an, als hätte sie sich an diesem Schmerz wundgescheuert.
«Das passiert dir kein drittes Mal», hatte sie gesagt, und sie hatten gemeinsam darüber gelacht und Witze gemacht. Und dennoch fühlte sich Amelie längst nicht sicher in der Beziehung, und das spürte Michael.
«Ich lass dir alle Zeit der Welt», hatte er ihr versprochen.
Vielleicht wollte sie gar nicht so viel Zeit. Vielleicht wollte sie nur selbst entscheiden dürfen, wohin das Leben sie treiben durfte, ohne sich Gedanken machen zu müssen, ob noch genug Geld auf ihrem Konto war. Ob sie sich selbst und ihr Kind allein über die Runden bringen konnte.
Denn damit sah es schlecht aus. Sie hatte keinen festen Job. Zu hoffen, dass sie mit dem Buch genug verdiente, um bis zum nächsten Buchvertrag ein Auskommen zu haben, war utopisch. Die Vorstellung, von Michael Geld zu nehmen, war zwar im Grunde okay, widerstrebte ihr aber. Denn dann konnte sie auch genauso gut sofort zu ihm zurückkehren. Immerhin würde er in Kürze auch für das andere Kind bezahlen müssen.
«Hallo? Jemand zu Hause?» Dan wedelte mit der Hand vor ihrem Gesicht herum. «Möchtest du mir nicht antworten?»
«Es geht auch um Anne», sagte Amelie. «Ich glaube, sie ist mindestens genauso interessant wie Beatrix. Jetzt muss ich das nur noch meiner Lektorin beibringen.»
Das war vermutlich das Schwerste. Sie hatte in den letzten beiden Wochen konsequent die E-Mails ihrer Lektorin ignoriert, die um eine Leseprobe bat. Oder um einen ungefähren Zeitplan, wann das fertige Manuskript vorliegen würde. Im nächsten Frühjahr hätte sie noch einen Programmplatz frei, da würde das Buch gut reinpassen, aber das würde nur klappen, wenn Amelie im Herbst, idealerweise im September, schon abgab. Und nicht, wie ursprünglich geplant, Ende des Jahres.
«Das schaffst du schon.» Dan trank sein Glas aus und verschwand in der Küche.
«Soll ich dir helfen?», rief Amelie ihm nach, obwohl sie wusste, dass er am liebsten allein in der Küche arbeitete. Ihr war’s nur recht. Sie vertiefte sich wieder in Frannys Aufzeichnungen.
Das Abendessen war köstlich. Foccaccia, Tomatensalat mit roten Zwiebeln, Lammbratwürstchen und Gemüsespieße vom Grill. Sie aßen schweigend.
Aber sie vermisste die Leichtigkeit mit Dan. Sie wusste, dass sie das alles selbst kaputt gemacht hatte, weil sie am Morgen überstürzt aus seinem Bett geflohen war. Und keiner von ihnen fand seither den Mut, darüber zu sprechen. Sie biss sich permanent auf die Unterlippe und knabberte Hautfetzen herunter, bis sie Blut schmeckte – eine schlechte Angewohnheit, die sie immer dann einholte, wenn sie etwas auf dem Herzen hatte.
Nach dem Essen spülten sie ab – wieder schweigend – und saßen dann so lange auf dem Balkon, bis es zu dunkel und zu kühl wurde. Danach zogen sie ins Wohnzimmer um. Früh ins Bett, den Kopf voll mit Frannys Gedanken. Das Herz schwer, weil sie Dan so viel sagen wollte.
Das Schlimmste war die Einsamkeit.
Niemand hatte sie darauf vorbereitet, wie es war, allein zu sein. Solange Anne denken konnte, war sie immer von Menschen umgeben gewesen – von ihrer Familie, ihren Freundinnen. Auch später waren immer Leute da gewesen, mit denen sie reden konnte. Hier hatte sie nur Elise – ein gerissenes Mädchen, das nicht lange vor ihr verbergen konnte, dass es an die Duchess Bericht erstattete.
Und Franny.
Franny war ihr Trotz. Ihr Kampf, ihr Aufbegehren gegen das Leben, das zu führen sie gezwungen war. Sie machte ausgedehnte Spaziergänge über die Klippen, ohne sich um Elises Einwände zu scheren, sie würde sich dabei noch den Tod holen oder abstürzen. Das alles kümmerte Anne nicht. Was hatte sie zu verlieren? Außer seinen gelegentlichen Päckchen, die mit Bees Absender kamen, blieb ihr nichts, und die Briefe verbrannte sie schweren Herzens abends im Kamin, weil sie fürchtete, Elise könnte sie finden. Den Füllfederhalter hatte sie behalten, ebenso die
Weitere Kostenlose Bücher