Der vergessene Strand
beschäftigt, einander zu versichern, dass sie sich liebten. Aber er fragte auch nie nach dem Kind. Es war fast, als wäre sie nicht nur deswegen im fernen Pembroke.
Weil er dieses Kind totschwieg, begann auch sie, anders darüber zu denken.
Durfte sie vom Leben verlangen, dass es sich nach ihren Wünschen richtete? Was wollten sie denn im fernen Pembroke dagegen tun, wenn Anne nach der Geburt das Kind und das Geld nahm – es war mehr als genug, um ein bisschen Reserve anzusparen – und verschwand?
Franny schenkte ihr eine neue Chance. Sie begann, nichts als gegeben hinzunehmen, denn wenn sie das tat, konnte sie sich gleich auf die Klippe stellen wie ihr Dienstmädchen und springen. Dann konnte sie ihr Leben in Gottes Hand befehlen und müsste sich um die eigene Zukunft und die ihres Kindes nicht länger kümmern.
Annes Kampfgeist erwachte. Vielleicht zum ersten Mal spürte sie, dass sie etwas verändern konnte. Bisher war sie immer behütet worden, von den Eltern und auch von Bee. Jetzt aber traf sie die Entscheidungen nicht nur für sich, sondern auch für dieses Kind.
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Kapitel 14
M itten in der Nacht wachte sie auf und konnte nicht zurück in den Schlaf finden.
Sie hatte wieder vom Strand geträumt. Irgendwas, aber was?, zog sie in Gedanken immer dorthin. Sie lag wach und ging das Wenige durch, was sie inzwischen über die Geschichte ihrer Familie erfahren hatte.
Irgendwann vor ihrem fünften Geburtstag hatte sie mit ihren Eltern in Pembroke gelebt, vermutlich in dem Haus mit der blauen Tür, in dem jetzt ihr Großvater Jonathan wohnte, vielleicht auch woanders, aber auf jeden Fall erinnerte sie sich an das Haus mit der blauen Tür. Von ihrem Vater wusste sie gar nichts, sie konnte nicht mal ausschließen, dass er schon tot war.
Sie kam einfach nicht weiter. Eigentlich gab es im Moment nur einen Menschen, der ihr ein paar drängende Fragen beantworten konnte.
Ihre Mutter.
Zum Glück war gerade tiefste Nacht, deshalb konnte sie der Versuchung, sofort anzurufen und nach Antworten zu verlangen, nicht nachgeben. Morgen, beschloss Amelie. Morgen wäre es immer noch früh genug, die Antworten zu verlangen, die sie schon vor knapp zwanzig Jahren hätte einfordern müssen.
Sie konnte trotzdem nicht wieder einschlafen. Irgendwann gab sie es auf, schaltete die Nachttischlampe ein und nahm Frannys Tagebücher zur Hand. Sie blätterte darin, las einige Abschnitte und machte sich ein paar Notizen. Dann hörte sie Schritte auf der Treppe.
Dan konnte also auch nicht schlafen.
Als er in ihrer Tür stand, zögernd und verunsichert, nur in T-Shirt und Boxershorts, da fand sie, dass er irgendwie «richtig» aussah. So, wie sie sich immer einen Mann vorgestellt hatte, bei dem sie sich gut aufgehoben fühlte. Einen verlässlichen Partner.
Sie zog die Bettdecke etwas höher.
«Möchtest du auch Tee?»
«Stehst du schon auf?», fragte sie.
Er zuckte mit den Schultern. «Konnte nicht mehr schlafen.»
Es war also nicht allein ihr Problem. Amelie schlüpfte aus dem Bett, zog sich dicke Wollsocken an und folgte ihm in die Küche.
«Hast du das häufiger?»
Er bestückte die Teekanne. «Nur, wenn ich mir zu viele Gedanken mache.»
Sie setzte sich aufs Sofa. Draußen war es stockdunkel, und als Dan an die Fenstertür zum Balkon trat und sie öffnete, hörte sie das Rauschen des nächtlichen Regens. Beide schwiegen, und sie hörte ihren Atem und das Klopfen ihres Herzens. Hörte er auch, wie es raste?
«Und worüber denkst du zu viel nach?»
Er stand mit dem Rücken zu ihr. Der Wasserkessel auf dem Herd pfiff. Sie stand auf und goss das sprudelnd kochende Wasser auf die Teeblätter in der Kanne. Dan hatte sich umgedreht und beobachtete sie.
«Warum bist du geflohen?», fragte er.
Sie wusste nicht, was genau er meinte. Warum sie vor Michael weggelaufen war? Oder warum sie sich vorgestern Nacht davongestohlen hatte, als er schlief?
«Wir wollten im Herbst heiraten. Er und ich.»
Im Grunde beantwortete das beide Fragen, nur eben auf sehr unterschiedlichen Ebenen.
Dan trat neben sie und holte die Teebecher aus dem Hängeschrank. Er stand so dicht neben ihr, dass sie nur ein winziges Stück hätte näher rücken müssen, damit sie sich berührten. Und sie wünschte sich das so sehr.
Sie hielt sich von ihm fern, denn sobald sie ihm zu nahe kam, hatte sie dieses schreckliche Bedürfnis, dieses bisschen Distanz zwischen ihnen zu überwinden. Noch mehr Nähe zu schaffen.
«War das seine
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