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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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Meer, nahe Ostrov Zmeinyj. Vierundzwanzig Stunden später
    Sie flogen im Schutz der Nacht tief dahin. Das einzige Licht im Flugzeug war das schwache Glimmen der Instrumentenbeleuchtung. Hin und wieder sahen sie draußen die Navigationslichter von Schiffen, die unter ihnen das Meer durchpflügten, winzige helle Pünktchen wie leuchtender Plankton im Wasser. Niemand sprach. Keiner von ihnen gab sich irgendwelchen Illusionen hin, was die Gefahr anging, in die sie sich begaben.
    Jackson auf dem Pilotensitz blickte nach links durch die Scheibe zu den verschwommenen Lichtern am fernen Horizont hinüber. «Das da ist die Grenze. Wir sind soeben in den sowjetischen Luftraum eingedrungen.»
    «Wenn irgendjemand mit dem Gedanken spielt überzulaufen, wäre jetzt die Gelegenheit», bemerkte Muir. Dabei warf er Marina einen gehässigen Blick zu. Grant, der neben ihr saß, spürte, dass sie sich versteifte.
    «Was ist das?» Reed, der sich in den Kopilotensitz gezwängt hatte, zeigte durch die Cockpitscheibe. Ein Stück voraus pulsierte unter ihnen ein weißes Licht in der Dunkelheit.
    «Laut dem Schwarzmeerlotsen steht auf dem höchsten Punkt der Insel ein Leuchtturm», sagte Marina.
    «Dann muss es hier sein. Andere Inseln gibt es in der Gegend nicht.» Jackson flog eine Linkskurve, drosselte die Geschwindigkeit und ging in einen langsamen Sinkflug über. Das Timing war gut: Durch das rechte Fenster sah Grant, dass sich die Dunkelheit über dem östlichen Horizont allmählich zu einem Blauviolett lichtete.
    «Hoffen wir, dass wir nicht von zornigen Göttern empfangen werden, die uns die Gliedmaßen einzeln ausreißen.»

    Gerade als die Sonne aufging, setzten sie auf dem Wasser auf, und Jackson steuerte die Maschine in eine kleine Bucht. Alle schauten sich mit großen Augen um und konnten kaum glauben, wo sie waren. Grant hatte sich, ohne bewusst darüber nachzudenken, eine prächtige, majestätische Landschaft ausgemalt: stolze Alabasterklippen, die in der Sonne funkelten wie Schnee, oder eine Steilwand aus Marmor, die aus dem Meer aufragte. Selbst so etwas wie die weißen Klippen von Dover hätten seine Vorstellung befriedigt. Doch diese Klippen waren einfach rötlich braun. Das einzig Weiße, was Grant sehen konnte, war der Vogelkot, der den Fels in dicken Streifen bedeckte.
    «Sind Sie sicher, dass wir hier richtig sind?», fragte Muir. «Besonders weiß kommt mir diese Insel nicht vor.»
    «Der Name muss metaphorisch gemeint sein.» Reed klang selbst nicht recht überzeugt; insgeheim war er ebenso enttäuscht wie die Übrigen.
    Muir summte ironisch ein paar Takte aus einer Melodie von Vera Lynn. Vor ihnen, am nordwestlichen Ausläufer der Insel, führte eine Betontreppe vom oberen Rand der Klippe über die rotbraunen Felsen hinunter zu einem Anlegesteg. Jackson schaltete den Motor ab und ließ die Maschine die letzten paar Meter von den Wellen tragen. Ein leichtes Beben durchlief den Flugzeugrumpf, als einer der Schwimmer an den Steg stieß. Grant sprang hinaus und befestigte ein Seil an einem rostigen Poller, dann blickte er zur anderen Seite des Stegs hinüber, wo an einem Eisenring ein ramponiertes Ruderboot mit abblätternder Farbe vertäut war. «Mit wie vielen von der Gegenseite rechnen wir?»
    «Es muss wenigstens einen Leuchtturmwärter geben. London geht davon aus, dass auch ein paar sowjetische Techniker auf der Insel sind, die hier einen Funkmast oder so etwas aufstellen sollen.»
    «Nur gut, dass wir auf eine Auseinandersetzung vorbereitet sind.»
    Jackson teilte vier M3-Maschinenpistolen aus, dazu Beutel mit Ersatzmagazinen und Handgranaten. Für Reed gab es keine M3; stattdessen bekam der Professor zu seinem Entsetzen eine kleine Smith & Wesson-Pistole ausgehändigt. «Ich kann nicht damit umgehen», protestierte er. «Ich habe in meinem Leben noch keine Waffe abgefeuert.»
    «Betrachten Sie es gewissermaßen als Versicherung», erwiderte Jackson. «Wenn man Frieden will, muss man sich auf den Krieg vorbereiten. Si vis pacem, para bellum. Aristoteles.» Er strahlte, als er Reeds verblüffte Miene sah. «Das hätten Sie mir nicht zugetraut, wie?»
    «Ich würde mir niemals anmaßen, darüber zu spekulieren», beteuerte Reed.
    Jackson drückte ihm die Pistole in die Hand. «Das hier ist der Hebel zum Entsichern, das ist der Abzug, und das ist das Ende, das Sie auf die bösen Jungs richten. Benutzen Sie die Waffe nur, wenn Sie so dicht dran sind, dass Sie das Ziel nicht verfehlen können.» Anschließend

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