Der vergessene Tempel
Ouzo nachgeschenkt waren, holte Reed das Tontäfelchen hervor und legte es auf das Tischtuch. Molho hatte es nicht genau in der Mitte durchgebrochen – Sourcelles’ Teil war größer als der von Pemberton, etwa fünfzehn Zentimeter im Quadrat. Sie betrachteten gespannt das Bild auf der Rückseite. Es war durch zwei Reihen Zickzacklinien – das stilisierte Meer – in drei Teile unterteilt. Im oberen, dicht unterhalb der Bruchkante, waren zwei Gestalten dargestellt, ein Mann und eine Frau, die zu beiden Seiten eines seltsam geformten Berges standen. Grant sog scharf die Luft ein. Trotz der dreitausend Jahre, die seit der Entstehung dieses Bildes vergangen waren, erkannte er den ausgehöhlten Berg auf Lemnos, wo sie das Kabirenheiligtum entdeckt hatten, deutlich wieder. Und tatsächlich – bei genauerem Hinsehen konnte er zwei winzige, kugelbäuchige Gestalten ausmachen, die unter dem Berg tanzten und Hämmer schwangen. Zwischen ihnen stand eine gefleckte Scheibe.
«Das müssen die Kabiren sein. Ich nehme an, die beiden Gestalten am Rand sind Hephaistos, der Gott der Schmiedekunst, und Thetis, Achills Mutter.» Reeds Dozententon konnte nicht ganz über seine Aufregung hinwegtäuschen.
«Und dieser Kreis – das wäre dann der Schild?», fragte Jackson.
Reed legte eine Hand an den Kopf und zupfte gedankenverloren an einer Haarsträhne. «Ich nehme an, davon ist auszugehen.»
«Und da, das stellt den Trojanischen Krieg dar, nicht wahr.» Jackson zeigte auf den zweiten Teil der Abbildung. Die Farbe war verblasst, aber das Motiv war noch deutlich genug erkennbar. Grant fühlte sich an die Reliefs in dem Heiligtum auf Lemnos erinnert. Streitwagen rasten in die Schlacht, während unter den Mauern einer Stadt auf einem Berg zwei Reihen bewaffneter Männer gegeneinander antraten. Einer hatte bereits seinen Speer geworfen, der jetzt in dem runden Schild eines anderen steckte, der gerade sein Schwert ziehen wollte.
«Achilles und Hektor.» Marina streckte die Hand aus, berührte das Bild jedoch nicht, sondern zog die Hand mit einem ehrfürchtigen Seufzer wieder zurück.
Also redete jener und zog das geschliffene Schwert aus,
Welches ihm längs der Hüfte herabhing, groß und gewaltig;
Ab nun stürmt’ er gefasst, wie ein hochherfliegender Adler,
Welcher herab auf die Ebne gesenkt aus nächtlichen Wolken
Raubt den Hasen im Busch, wo der hinduckt, oder ein Lämmlein:
Also stürmete Hektor, das hauende Schwert in der Rechten.
Gegen ihn drang der Peleid’, und Wut erfüllte das Herz ihm
Ungestüm: Er streckte der Brust den strahlenden Schild vor …
Jackson sah Reed scharf an. «‹Strahlender Schild›? Was bedeutet das?»
Reed zuckte die Schultern. «So wird Achilles’ Rüstung häufig beschrieben. Der Schild war vergoldet. Ich nehme an, es heißt einfach, dass er in der Sonne strahlend hell glänzte.»
«M-hm.»
«Und das hier muss dann wohl die Weiße Insel sein.» Muir zeigte auf den unteren Teil der Tontafel. Die Farbe war an den Rändern stark abgesplittert, aber sie konnten in der unteren rechten Ecke einen weiteren Berg ausmachen, der in tiefem Schwarz gemalt war. Auf seinem Gipfel stand ein weißer Turm, und an der Spitze befanden sich zwei Hörner – das Symbol, das Heiligtümer kennzeichnete.
«Das muss der Tempel sein», sagte Reed ruhig. «Der Unterwelt-Tempel des Achilles.»
Er zog einen steifen Bogen Papier aus seiner Tasche, eine maßstabsgetreue Zeichnung, die er von Pembertons Teil der Tafel angefertigt hatte, und schob das Blatt unter das Bruchstück, das er vor sich hatte. Der Rand der Zeichnung und die Bruchkante von Sourcelles’ Teil passten fast exakt zusammen. Endlich konnten sie das Bild im Ganzen sehen. Die Kultstätte im Tal der Toten befand sich in der linken oberen Ecke dessen, was sie jetzt als vierten Bildteil erkannten, von den übrigen durch die Wellenlinie abgetrennt. Alle fünf beugten sich über den Tisch und starrten andächtig darauf.
«Die Angelegenheit wird noch einige Nachforschungen erfordern.» Reed drehte die Tafel um; seine Stimmung war so wechselhaft wie das Wetter in Oxford. «Wie auch immer, wenigstens haben wir jetzt den vollständigen Text.»
«Können Sie ihn denn inzwischen lesen?», fragte Muir.
«Darum geht es nicht. Der unmittelbare Nutzen ist, dass wir jetzt eine saubere Probe von Linear B besitzen. Alles, was ich bisher über die Struktur der Sprache erschlossen habe, beruht auf dem ersten Teil der Inschrift. Nun, da ich einen neuen Text habe, kann ich
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