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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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lächelte ein wenig verlegen. «Aber das hat die Inseln ruiniert. Ohne Fischerei hatten sie keine Arbeit und nichts zu essen. Viele Fischer waren gezwungen, ihre Boote zu verkaufen, wenn sie ihnen nicht sogar von den Nazis zertrümmert wurden.»
    «Was ist das?» Muir starrte gelangweilt zum Bug, der fast lotrecht in die Höhe ragte – ein Entermesser, mit dem sich jeder Gegenwind durchschneiden ließ. Auf beide Seiten waren große blaue Augen gemalt, unter die ein kleines Kupferamulett in Gestalt eines gedrungenen, affenähnlichen Mannes genagelt war.
    Marina lachte. Sie hatte ihr Haar gelöst, ließ es sich frei um die Schultern flattern, und während das Boot Fahrt aufnahm, wurde ihr die Bluse vom Wind eng an die Haut gepresst. «Glauben Sie an Vorzeichen, Mr.   Muir? Das ist einer der Kabiren. Sie wurden oft mit Seeleuten in Verbindung gebracht: In Stürmen tauchten sie auf, um Schiffe sicher an Land zu geleiten. Die Inselbewohner benutzen sie bis heute als Talisman.»
    Grant schaute zum Himmel hoch und fragte sich, ob das Schiff, das vor dreitausend Jahren von Kreta hergesegelt war, wohl von einem ähnlichen Talisman beschützt wurde – und ob das geholfen hatte. An diesem Karfreitag war nirgends ein Wölkchen zu sehen: Die Luft war so klar, dass sie am Horizont den weißen Kegel des heiligen Bergs Athos aufragen sehen konnten. Sie umrundeten die Insel unterhalb der Burg, und der Fischer ließ den Motor an, der dichte Wolken Dieselqualm hinter sich ausstieß. Dessen ungeachtet stahl Grant sich nach vorne zum Bug und berührte, während die anderen gerade nicht herübersahen, das Amulett. Nur für alle Fälle , sagte er sich.

ACHT
    Erst am Nachmittag legten sie in der sandigen Bucht an – zu spät, um noch am selben Tag nach Myrina zurückzukehren. Sie luden Decken und Lebensmittelkonserven aus dem Kaíki aus und einigten sich dann mit dem Fischer darauf, dass er sie am folgenden Morgen wieder abholen sollte. In einer Wolke von Qualm verschwand er um die Landspitze, und sie blieben allein am Strand zurück.
    «In der Antike wurde hier alljährlich ein Fest begangen, bei dem alle Feuer auf der Insel acht Tage lang gelöscht wurden. Am neunten Tag kam ein Schiff zum Heiligtum der Kabiren und brachte frisches Feuer – heiliges Feuer – aus dem Apollontempel auf Delos. Es dürfte genau hier angelegt haben.» Reed schaute sich um, und wieder hatte Grant das beunruhigende Gefühl, dass der Professor Dinge sehen konnte, die ihm verborgen waren.
    «Und, wo ist das Heiligtum jetzt?»
    Ein Ziegenpfad führte den Hang hinauf, der hinter der Bucht aufragte, und sie traten den Aufstieg an. Die Bergflanke war bedeckt mit einem Teppich aus Wildblumen – Mohn, Butterblumen, Maiblumen –, doch es gab auch reichlich Dornbüsche, und bald schon waren ihre Hosen zerrissen. Weiter oben war eine künstliche Terrasse in den Berg gegraben worden, hoch über der schäumenden See in der Tiefe. Sie war ungefähr so groß wie ein Tennisplatz und völlig eben, bis auf ein paar Säulenpodeste und Grundmauern hier und da. Einzige Hinterlassenschaft der Archäologen, die diese Stätte entdeckt hatten, war ein einsames Gerüst aus Holzlatten, an dem ein wenig Stroh hing und traurig im Wind flatterte.
    «Herrliches Fleckchen», sagte Muir. «Aber was die Ausgrabung betrifft – ich habe schon Latrinen gesehen, die wesentlich aufregender waren.»
    «Da drüben ist noch mehr.» In der hintersten Ecke der Terrasse führte ein bröckeliger Pfad um die Bergflanke herum zu einer zweiten Terrasse über der nächsten Bucht. Anhand freigelegter Grundmauern waren deutlich die Umrisse eines rechteckigen Bauwerks, einer Säulenhalle und eines abgetrennten Heiligtums an einem Ende zu erkennen. Gleichwohl war keine der übriggebliebenen Mauern höher als etwa dreißig Zentimeter.
    «Das ist schon vielversprechender», sagte Marina zuversichtlich. «Der Tempel in dem ersten Hof stammt aus klassischer Zeit. Das hier ist archaisch.»
    «Für mich sieht das alles archaisch aus, verflucht.»
    Marina warf Muir einen vernichtenden Blick zu. «Historisch gesehen beginnt das archaische Zeitalter um 750 vor Christus. Die klassische Periode setzt rund dreihundert Jahre später ein, mit dem Aufstieg der griechischen Stadtstaaten.»
    «Das ist immer noch zu spät.» Grants Hirn gewöhnte sich langsam an die fernen Tiefen der Vergangenheit, in denen diese Akademiker zu Hause waren – ein Zeitalter, das er bis vor kurzem noch als «graue Vorzeit» abgetan hätte.

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