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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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noch – bis an die Küste des Bosporus, sogar bis zum Schwarzen Meer. Auf Lemnos ist der Kult zwar entstanden, aber hier befand sich nicht das einzige Zentrum. Warum nicht Samothraki oder Thessaloniki, oder Theben?»
    Reed winkte abwehrend ab. «Verbreitet hat sich der Kult erst viel später. Wir befinden uns noch tief in der Prähistorie – um das Jahr 1200 vor Christus. Lemnos gehört zu den am frühesten besiedelten Inseln der Ägäis. Nicht mal die Griechen konnten ihre Vorfahren weit genug zurückverfolgen: Ihren Aufzeichnungen nach wurde die Insel erstmals von den Pelasgern besiedelt, einer quasimythischen Menschenrasse, die es schon vor den Griechen gab. Vermutlich Mykener. Im Übrigen war auch Pemberton dieser Ansicht.» Reed schlug das Notizbuch auf der letzten Seite auf und deutete auf das Homer-Zitat, das Pemberton dort hingeschrieben hatte. «Hier wird nicht etwa eine der Schlachten um Troja geschildert. Die Stelle stammt aus dem achtzehnten Gesang der Ilias , als Hephaistos in seiner Werkstatt auf Lemnos eine neue Rüstung für Achilles schmiedet.» Er blickte mit triumphierendem Lächeln in die Runde. «Die Werkstatt können wir mit einiger Sicherheit mit dem Heiligtum der Kabiren gleichsetzen.»
    Muir ließ seinen Zigarettenstummel in die Kaffeetasse fallen und gab dem Kellner Zeichen, die Rechnung zu bringen. «Ist das ausgeschildert?»
    «Allzu schwer sollte es nicht zu finden sein. Nach Eustathios von Thessalonike, der einen Kommentar zu Homer verfasst hat, befindet sich das Heiligtum der Kabiren direkt neben dem Vulkan.» Sein Blick landete auf Marinas verwunderter Miene. «Was ist?»
    «Tut mir leid, Ihnen das mitteilen zu müssen, Herr Professor.» Es kam Grant so vor, als spielte ein leises Grinsen um Marinas Lippen. «Auf Lemnos gibt es keinen Vulkan.»
    Reed blinzelte zweimal, während Muirs Streichholz reglos neben der Reibfläche der Schachtel verharrte. Grant blieb es überlassen, ganz folgerichtig zu fragen: «Und was hat es damit auf sich?» Er deutete mit dem Kopf auf die Gesteinsbrocken, die sich um die Stadt herum erhoben – und auf die mächtige Felsnase am Ende der Bucht, die von einer Burg gekrönt wurde. «Die sind vulkanischen Ursprungs.»
    «Eine Vulkaninsel ist Lemnos schon», räumte Marina ein.
    «Natürlich ist sie das», sagte Reed verschnupft. «Eustathios, Heraklit, alle alten Kommentatoren berichten übereinstimmend, dass der Tempel der Kabiren sich neben dem Vulkan befindet.»
    «Dann hätten sie vielleicht erst einmal herkommen sollen, bevor sie das schrieben. Auf Lemnos gibt es seit Millionen von Jahren keine Vulkane mehr. Das war lange vor den Minoern», setzte sie mit einem Seitenblick auf Grant hinzu.
    «Herrje. Gibt es denn Überreste? Einen Krater oder so etwas?» Muir warf ein paar Geldstücke auf den Tisch.
    «Darauf sind wir gar nicht angewiesen. Das Heiligtum der Kabiren – das Kabyrion – wurde vor zehn Jahren von italienischen Archäologen entdeckt und ausgegraben.» Marina lächelte Reed zu. «Aber weit und breit kein Vulkan in der Nähe.»
    «Wunderbar. Und wie kommen wir da jetzt hin?»

    Muirs Manieren mochten gewöhnungsbedürftig sein, aber wie man ein Problem anging und energisch löste, darauf verstand er sich ganz ohne Zweifel. Obwohl Karfreitag war und die meisten Bewohner der Stadt sich zur Vorbereitung der Festlichkeiten in ihre Häuser zurückgezogen hatten, war Muir unermüdlich, hämmerte an Türen und schrie durch Fenster. Wonach sie suchten, darauf stießen sie schließlich in einer – wider Erwarten nicht geschlossenen – Taverne, vornübergesunken vor einem Backgammonbrett. Zunächst blickte der Fischer die vier Ausländer, die ihn nach seinem Boot fragten, ängstlich an, dann voller Misstrauen, doch das Bündel Geldscheine, das Muir ihm in die Hand drückte, schien seine Vorbehalte im Nu zu zerstreuen. Er grinste und führte sie dann zu einem unten an der Mole vertäuten, aus breiten Bohlen gezimmerten Kaíki . Die hölzerne Außenwand war zerkratzt und sah ziemlich mitgenommen aus, im Bootsraum schien sich fast ebenso viel Wasser zu befinden wie ringsherum.
    Reed blickte sich nervös nach einer Sitzgelegenheit im Boot um, die nicht mit Öl oder Fischblut besudelt war. «Haben wir wirklich keine andere Möglichkeit?»
    «Im Krieg haben die Deutschen den Fischern nicht über den Weg getraut. Weil sie vermuteten, dass sie ihre Boote zum Transport von Waffen und Spionen benutzen würden – womit sie nicht ganz unrecht hatten.» Grant

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