Der vergessene Tempel
nachgedacht. Ich frage mich, ob das nicht sogar die Grotte aus der Geschichte des Philoktetes ist.»
«Von wem?»
«Philoktetes war ein griechischer Bogenschütze im Trojanischen Krieg. Nur kam er nie mit der Flotte in Troja an. Er verärgerte einen der Götter – immer ein Risiko zu jener Zeit –, und die verärgerte Gottheit sorgte dafür, dass er von einer Schlange gebissen wurde. Die Wunde schwoll an und fing an zu schwären; sie verbreitete einen so üblen Gestank, dass die Griechen sich weigerten, ihn wieder mit an Bord zu nehmen. Man ließ ihn hier auf Lemnos zurück. Der arme Kerl hauste zehn Jahre lang in einer Höhle – bis die Griechen von einem Orakel erfuhren, dass sie Troja ohne den Bogen und die Pfeile des Philoktetes nie einnehmen würden. Es handelte sich nämlich um den Bogen des Herakles, den er geerbt hatte. Also kam Odysseus hierher zurück, mit zugehaltener Nase vermutlich, nahm ihn mit an Bord … und alles Weitere ist Geschichte.»
«Ach ja?» Grant warf noch einen Ast ins Feuer, sah zu, wie die Funken hinauf ins Dunkel sprühten. «Ich dachte, der Trojanische Krieg sei bloß eine Legende.»
Reed gluckste. «Natürlich ist er das. Die Mykener waren Piraten, Räuber – nicht viel anders als die Wikinger vermutlich. All ihre Erzählungen dürften vom Umhersegeln und Ausplündern von Städten gehandelt haben, je blutiger, desto besser. Später, als nachfolgende Generationen die Erzählungen umarbeiteten, beschloss man, sie etwas zu bereinigen: Führte die schöne Prinzessin ein, die von einem verruchten Schürzenjäger aus dem Osten entführt wurde; stellte den Helden als gekränkten Ehemann dar, der seine Frau zu retten versuchte, statt als Kriegsherrn, der sich fraglos in der gesamten Ägäis an Frauen vergangen haben dürfte. Eine magische Rüstung, phantastische Kriegsgeräte, Meeresnymphen – so verwandelte man das Geschehen in ein Märchen.»
Grant hob seine leere Eintopfdose auf und schleuderte sie davon ins Dunkel. Sie rollte über den Rand der Klippe und fiel, mit einem blechernen Scheppern gegen die Felsen schlagend, hinunter ins Meer. «Wollen wir hoffen, dass wir hier nicht so lange festsitzen wie Philoktetes.»
Grant schreckte jäh aus dem Schlaf hoch. Die Nacht war kalt, und von dem harten Lager schmerzten ihm die Schultern. Kurz lag er reglos da und lauschte auf die Geräusche der Nacht: das Sirren von Insekten, das Rauschen der Wellen am Fuß der Klippen, Reeds leises Schnarchen. Geweckt hatte ihn allerdings irgendetwas anderes. Er spitzte abermals angestrengt die Ohren. Es war ein leises Geräusch, weiter weg, aber unverkennbar: das ferne Tuckern eines Motors. Dann verstummte das Geräusch plötzlich.
Grant schleuderte die Decke von sich und tastete auf dem Boden neben sich herum, bis er den Webley gefunden hatte. Er stand auf und schlich leise zum Rand der Klippe. Die weiße Brandung leuchtete fast phosphoreszierend im Mondlicht, doch ein Boot war nirgends zu sehen.
Wahrscheinlich bloß ein Fischer, der seine Netze auswirft, überlegte er. Er wandte den Kopf nach rechts, hielt Ausschau nach dem Strand, an dem sie am Nachmittag gelandet waren, doch von hier aus konnte er ihn nicht sehen. Kurz überlegte er, ob er Muir wecken sollte, konnte sich aber seine schroffe Reaktion ausmalen. Marina vielleicht? Er drehte sich zum Feuer um. Ihre Decken lagen ebenso verlassen da wie seine. Wo war sie nur?
Er entfernte sich von der Terrasse, schlich um die Bergflanke herum und dann den Ziegenpfad hinunter, der zur Bucht führte. Plötzlich hielt er inne und lauschte – da war etwas: erst das Knirschen loser Steinchen unter schweren Stiefeln; dann ein halblauter Fluch, so als wäre jemand in eins der dornigen Gestrüppe geraten. Grant sah sich um. Zu seiner Linken, ein paar Meter abseits des Pfades, entdeckte er den Umriss eines massigen Felsblocks. Mit zwei Sätzen hatte er sich dahinter in Sicherheit gebracht und musste sich auf die Lippe beißen, als ihm Dornen schmerzhaft die Wade zerkratzten.
«Schto eta?»
Auf einmal befand sich Grant wieder im Krieg, in der Finsternis kauernd und seinen Webley umklammernd, auf eine feindliche Patrouille lauschend und betend, dass man ihn nicht gehört hatte. Aber der Krieg war vorbei: Inzwischen sprachen die Feinde Russisch.
Eine andere Stimme murmelte eine Antwort. Die Schritte hielten inne; Grant duckte sich tiefer hinter den Felsen, spürte, wie sich die Dornen in seinen Hosenboden gruben.
«Schto eta bila?» Eine dritte Stimme.
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