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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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hatte, schien es nur logisch, ihm seine Reliquien und heiligen Gegenstände zu rauben und für sich selbst zu benutzen. Warum die Macht von Göttern ungenutzt brachliegen lassen.»
    Das Signalhorn des Dampfers ließ ein dreimaliges, langgezogenes Tuten vernehmen, als stimmten die Götter selbst lautstark zu. Grant schaute über die Reling. Übers Wasser hinweg blinkte ein rotes Leuchtfeuer aufs Meer hinab; vor ihnen tauchten die ersten vereinzelten Lichter im Dunkel auf. Das Schiffsdeck erwachte zum Leben: Männer rieben sich die Augen, Frauen wickelten sich in ihre Tücher ein und streichelten müde Kinder. Die jungen Uniformierten beendeten ihr Kartenspiel und steckten die gewonnenen Zigaretten ein. Nur der Pope blieb sitzen und spielte weiter mit seinem Gebetskettchen.
    «Da wären wir.» Muir trank seinen Kaffee aus. «Lemnos.» «Homer zufolge hatte Zeus eines Tages die ewige Einmischung seiner Gattin satt und hängte sie, mit einem Paar Ambossen an den Füßen, an den Wolken über dem Olymp auf. Ihr Sohn Hephaistos, Gott der Schmiedekunst, eilte ihr zu Hilfe – deshalb schleuderte Zeus ihn vom Olymp in die Tiefe. Er stürzte einen ganzen Tag lang und landete, mit einem ziemlichen Krach, könnte ich mir denken, hier auf Lemnos.»
    Reed deutete mit einer ausholenden Armbewegung auf die Insel um sie herum. Sie saßen in einem kaphenion im Hafenviertel, an einer seichten, von den Häusern der Inselhauptstadt Myrina gesäumten Bucht. Früher musste es einmal ein malerischer, bunter Ort gewesen sein, doch auch hier hatte der Krieg seinen Grauschleier hinterlassen. Überall blätterte verblichene Farbe von bröckelndem Putz; Zeitungen flatterten über zerbrochene Fenster, und Möwen nisteten zwischen zerborstenen Dachziegeln. Selbst die Insel schien sich gegen die Einwohner gewendet zu haben: Längs der geschwungenen Bucht ragten zwischen den Häusern immer wieder riesige, schroffe Felsen empor, als würde die Hand eines Riesen aus der Erde greifen, um die Stadt zu zermalmen.
    Grant trank schlückchenweise seinen Kaffee – hier gab es zum Glück Nescafé, sodass ihm das übliche griechische Gebräu erspart blieb – und schwieg. Wie schon Generationen von Studenten vor ihm hatte er inzwischen begriffen, dass der Professor seine Vorlesungen nach eigenen Vorstellungen hielt.
    «Hephaistos wurde gesund gepflegt und richtete mit seinen beiden Söhnen hier eine Schmiede ein. Nun – diese beiden sind hochinteressant …»
    Muir unterdrückte ein Gähnen.
    «Man nannte sie die Kabiren. Halbgötter, die von den Griechen auch als Daimones bezeichnet wurden, Dämonen: seltsame Geschöpfe, Bewohner jener Grauzone, in der sich volkstümliche Überlieferung, Mythen, Religion und Magie vermengen. In gewisser Weise sind sie unseren Feen nicht unähnlich – magische Geschöpfe mit besonderen Fähigkeiten, die aber keine vollwertigen Götter sind.»
    Muir schlug die Hände vor die Augen. «Jetzt sagen Sie mir bitte nicht, dass wir hier irgendwelchen verfickten Elfen nachjagen wollen.»
    Grant hatte lange Jahre seines Lebens unter rauem Volk verbracht, unter Abenteurern auf Diamantensuche, abgebrühten Spezialagenten und Banditen, deshalb fielen ihm Kraftausdrücke sonst ebenso wenig auf wie Bemerkungen übers Wetter. In Reeds Gegenwart aber war ihm Muirs derbe Ausdrucksweise irgendwie peinlich – wie einem Schuljungen, der auf dem Spielplatz von seiner Mutter in Verlegenheit gebracht wird. Reed schien das nicht weiter zu stören, er verdrehte bloß die Augen, als hätte er es mit einem besonders minderbemittelten Studenten zu tun.
    «In diesem Fall ist Ihre phantasielose Ausdrucksweise ungewöhnlich passend. Die Kabiren standen im Zentrum eines Mysterienkults, der jahrhundertelang fortbestand.»
    «Um welches Mysterium ging es?»
    Reed seufzte müde. «Das ist selbstverständlich ein Geheimnis. Nur Angehörige des Kults kannten seine Geheimnisse, und die mussten sich vor ihrer Einweihung allen möglichen Initiationsriten unterziehen. Angefangen hat dieser Kult höchstwahrscheinlich als eine Art Gilde, in der die Fertigkeiten des Schmiedehandwerks vermittelt wurden. Ganz ähnlich wie bei den Freimaurern, möchte ich vermuten. Im Lauf der Zeit entwickelte sich daraus aber ein breiterer Kult mit allen Elementen, die wir auch von anderen Mysterienkulten kennen: Tod und Unterwelt; Leben und Fruchtbarkeit – was fraglos zu gewissen sexualisierten Riten geführt hat. In der Kunst werden die Kabiren oft mit unnatürlich großen

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