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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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bestimmte heilige Orte, an denen die Schranken zwischen den Welten durchlässiger seien, und wenn man dorthin ginge und die entsprechenden Rituale vollzöge, könne man mit den Toten kommunizieren. Als Odysseus in dem Gedicht auf die andere Seite des Okeanos gelangt, hebt er eine flache Grube aus. Er gießt darum herum Wein, Milch und Honig aus, dann lässt er das Blut der geopferten Schafe in die Grube fließen. Und tatsächlich: Die Geister kommen. Teiresias der Seher; Agamemnon, den seine Frau Klytämnestra umgebracht hat; Ariadne und König Minos.» Marina machte eine bedeutungsvolle Pause. «Und Achilles.»
    Grant war beeindruckt. «Du denkst also, dass Achilles’ Tempel – sein Grab – die Stelle war, wo Odysseus in die Unterwelt ging?»
    «Vielleicht. Oder er ging zu dem Grab auf der Weißen Insel, um dem toten Achilles den Schild zu opfern, und später wurde daraus in der Überlieferung eine Reise in die Unterwelt.»
    «Das heißt, wir müssen diese Stelle finden.» Grant betrachtete die beiden Schafe in der Abbildung, die vor der gewaltigen Klippe ihr Schicksal erwarteten. «Müssen wir auch Schafe opfern, um dorthin zu gelangen?»
    «Hoffen wir nur, dass wir sonst nichts opfern müssen.»

    Grant überließ Marina und den Professor ihren Büchern und ging nach draußen, um eine Zigarette zu rauchen. Verstörende Bilder geisterten ihm durch den Kopf: schroffe Felswände, Blutlachen, Geister wie Wolkengespinste und Aasvögel, die von den Klippen schrien. Die Bilder waren so lebhaft, dass er nicht mehr darauf achtete, wohin er ging. Als er durch die Tür des Bibliothekssaals trat, stieß er heftig mit einem Mann zusammen, der ihm entgegenkam. Der andere stürzte, und ein Stapel Papiere flog durch die Luft; die Blätter wirbelten durch den Gang wie Schnee.
    «Entschuldigung.» Grant streckte dem Mann die Hand entgegen, um ihm aufzuhelfen, doch dieser ignorierte ihn. Mit einem erbosten Räuspern rappelte er sich auf und klopfte seine Kleidung ab. Er war klein und hager, eine unansehnliche Gestalt mit kantigem Kopf und dünnem blondem Haar, das er sehr kurz geschnitten trug. Seine Haut war gerötet und unrein, als sei das ganze Gesicht von Ausschlag überzogen, und seine engstehenden Augen funkelten zornig.
    «Passen Sie doch auf!», rief er auf Deutsch. Dann trat er einen Schritt zurück. Die Schweinsaugen weiteten sich – sofern das möglich war – und wurden dann sofort wieder schmal. «Seien Sie in Zukunft gefälligst vorsichtiger», fügte er auf Englisch hinzu.
    Trotz des starken Akzents hörte Grant in seinem Tonfall etwas heraus, das ihn stutzig machte. Er musterte den Mann eingehender. Kannte er ihn? Er konnte sich an keine Begegnung erinnern. Dennoch wurde er das Gefühl nicht los, dass in diesem ersten Moment der Empörung ein Funke von Wiedererkennen gelegen hatte.
    Der Mann sammelte seine Papiere auf, drängte sich an Grant vorbei und betrat die Bibliothek. Als Grant noch einen Blick zurück durch die Glastür warf, sah er, dass sich der Deutsche an einen Tisch in der Mitte setzte, zwei Plätze von Reed entfernt.
    «Wahrscheinlich nur Einbildung», versuchte er sich selbst zu überzeugen. Er schmachtete schon seit einer halben Stunde nach einer Zigarette. Außerdem war ja noch Marina da, die ein Auge auf den Professor hatte.
    Beim Hinausgehen lächelte er der jungen Frau an der Empfangstheke zu. Die Luft draußen fühlte sich fast so heiß an wie der Rauch in seiner Lunge, doch es tat gut, der muffigen Bibliothek eine Weile zu entkommen. Grant fragte sich, wie Männer wie Reed es aushielten, ihr Leben eingesperrt in solchen Räumen zu verbringen. Für seinen Geschmack glichen sie zu sehr Mausoleen, Nekropolen voller toter Seiten in toten Sprachen.
    Das Geräusch eines Motors im Leerlauf durchdrang die vormittägliche Stille. Draußen vor dem Tor, auf der anderen Straßenseite, stand ein grüner Citroën am Bordstein. Ein Mann saß auf dem Vordersitz und las Zeitung; ein weiterer lehnte an der hinteren Tür und stocherte zwischen seinen Zähnen.
    «Hast du mal Feuer?»
    Grant fuhr herum. Marina stand im Schatten einer Platane und schien etwas überrascht über seine heftige Reaktion. Sie hielt ihm auffordernd ihre Zigarette entgegen.
    «Wer passt inzwischen auf Reed auf?»
    «Er ist in der Bibliothek.» Sie lächelte verlegen. «Ich wollte mit dir reden. Letzte Nacht –»
    «Nicht jetzt.» Grant stieß sie in seiner Hast beinahe in das Blumenbeet. Er stürmte zurück ins Gebäude, vorbei an der

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