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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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Empfangsdame, und rannte den Gang entlang. Als er die Tür zum Bibliothekssaal heftig aufstieß, blickte an den Schreibtischen und in den Arbeitsnischen eine Schar bebrillter Gesichter entgeistert auf.
    Reed saß noch am selben Platz wie vorhin und schaute hinter seinem Bücherstapel hervor. Wenigstens schien er mehr überrascht als verärgert.
    «Mr.   Grant.» Die junge Frau von der Rezeption musste gerannt sein, um ihn einzuholen. Ihr Gesicht war gerötet, das Haar löste sich aus dem Knoten. Sie sah ihn mit einer Mischung aus ungläubigem Erstaunen und Empörung an. Schließlich blieb ihr Blick an der Zigarette hängen, die er noch immer zwischen den Lippen hatte. «Sie können doch in der Bibliothek nicht rauchen.»
    Grant spuckte die Zigarette aus und zertrat sie auf dem Holzfußboden, bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, wie peinlich ihm die Situation war. Er ließ die Tür zufallen und ging betreten zu Reed an den Tisch. Die übrigen Studenten und Wissenschaftler wandten sich nach und nach wieder ihrer Arbeit zu.
    «Gab es einen bestimmten Grund für dieses kleine Drama?», erkundigte sich Reed, als Grant sich auf dem Stuhl neben ihm niederließ. Er blickte sich schuldbewusst um, als fürchtete er, mit dem polternden Barbaren in Verbindung gebracht zu werden, der soeben das Heiligtum der Bibliothek entweiht hatte.
    «Ich dachte …» Der Stuhl zwei Plätze weiter, wo der Deutsche gesessen hatte, war jetzt leer. Aber wofür die ganze Aufregung? Sie befanden sich nicht mehr im Krieg, wo jeder fremde Akzent automatisch verdächtig und jeder Deutsche ein Feind war. «Ich dachte, Sie könnten in Schwierigkeiten sein», schloss Grant betreten.
    «Meine einzige Schwierigkeit ist, dass ich ständig unterbrochen werde.»
    «Was sollte das?» Marina kam hinzu und sah Grant hinter Reeds Rücken vorwurfsvoll an.
    «Da war ein Mann.» Grant fing die strafenden Blicke der Leser an den Nachbartischen auf. «Er sah irgendwie verdächtig aus», sagte er leise. In seiner Stimme schwang ein Anflug von Trotz mit. Ihm war klar, wie wenig überzeugend das klang, doch sein Instinkt hatte ihm schon so manches Mal gute Dienste geleistet. Er war nicht bereit, sich dafür zu entschuldigen, dass er seinem Gefühl gefolgt war.
    «Nun, er hat jedenfalls keinen Versuch unternommen, mir die Kehle durchzuschneiden.» Reeds Geduld schien allmählich erschöpft, und er konnte es sichtlich kaum erwarten, sich wieder dem Gewirr aus Linien und Schnörkeln auf seinen Arbeitsblättern zuzuwenden. «Und er hat mir auch nicht» – sein Blick wanderte automatisch nach unten – «meine Tasche …»
    Grant schaute ebenfalls unter den Tisch. Vier hölzerne Stuhlbeine, zwei Hosenbeine aus Flanell, zwei abgestoßene Schnürschuhe – aber keine Tasche.
    «Meine Tasche», wiederholte Reed tonlos. «Sie ist weg.»
    «War irgendwas Wichtiges darin?»
    «Etwas Wichtiges? Die Schrifttafel war darin.»

    Grant stürzte wieder hinaus und rannte den Gang entlang. Vor der Empfangstheke kam er schlitternd zum Stehen. «Ein Deutscher, blond, brauner Anzug – ist er hier vorbeigekommen?»
    Sein Ton war so eindringlich, dass die junge Frau gar nicht erst auf den Gedanken kam, ihn erneut zurechtzuweisen. Sie nickte nur und zeigte zur Tür. Noch ehe sie den Arm wieder sinken ließ, war Grant bereits nach draußen gerannt, die Stufen hinunter und zwischen den Bäumen hindurch auf das Tor zu. Der grüne Citroën stand noch da. Gerade wurde die hintere Tür zugeschlagen, und der Wagen machte einen Satz nach vorn.
    Grant rannte auf die Straße hinaus, wo ihm eine Wolke Auspuffgase und Staub entgegenschlug. Er zog den Webley und schoss auf den flüchtenden Wagen. Die Heckscheibe zersplitterte, und weitere Kugeln hinterließen Einschläge wie Pockennarben auf der grünen Karosserie. Der Citroën schlingerte; der Fahrer bemühte sich, ihn wieder unter Kontrolle zu bringen, doch er hatte keine Chance. Schließlich holperte das Auto über den Bordstein und prallte frontal gegen eine Hauswand. Putzbrocken prasselten auf die rauchende Motorhaube nieder. Der Mann auf dem Beifahrersitz rüttelte verzweifelt an seinem Türgriff, doch die Tür war durch die Wucht des Aufpralls verklemmt und ließ sich nicht öffnen.
    Rauch und Dampf aus dem zertrümmerten Motor trübten die Sicht, aber Grant erkannte, dass sich die hintere Tür öffnete und der Dieb ausstieg, Reeds Ledertasche über der Schulter. Er schrie dem Fahrer etwas zu, dann rannte er davon, weiter die Straße

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