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Der vergessene Tempel

Der vergessene Tempel

Titel: Der vergessene Tempel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tom Harper
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Sie blätterte in ihren Unterlagen. «Bei Plinius habe ich auch eine Erwähnung gefunden. Er behauptet wiederum, die Weiße Insel läge an der Mündung des Dnjepr. Was Entfernungsangaben betrifft, sind die antiken Geographen nicht besonders zuverlässig, aber sowohl die Mündung der Donau als auch die des Dnjepr liegen etwa hundert Kilometer von der des Dnjestr entfernt.»
    Grant kratzte sich am Kopf. «Diese Insel liegt also entweder bei der Donau oder beim Dnjepr oder noch ganz woanders.» Er warf einen Blick zu Reed, der am Tisch gegenüber in einen Wust von Fotokopien und gekritzelten Symbolen versunken war. «Aber hat er nicht gesagt, dass diese Insel nur eine Legende war? Eine Art mythisches Paradies für tote Heroen?»
    «Ich glaube, da hat er sich geirrt. In sämtlichen Textstellen, die ich gefunden habe, wird als Einziger Heros Achilles erwähnt, allenfalls noch sein engster Freund Patroklos. Die Weiße Insel war kein allgemeines Paradies. Offenbar wurde sie ausschließlich zu Achilles in Beziehung gesetzt.»
    «Und du denkst, dadurch ist es wahrscheinlicher, dass sie tatsächlich existiert?»
    «Irgendwie müssen die Berichte ja zustande gekommen sein. Es gibt sonst zu keinem der Heroen eine vergleichbare Legende. Es muss einen Grund dafür geben, dass diese besondere Geschichte sich gerade um Achilles rankt.»
    Sie zog eins der Bücher zu sich heran. «Laut Arrianos gibt es auf dieser Insel einen Achillestempel. Plinius geht sogar noch weiter und behauptet, dass sich dort auch sein Grab befindet.» Marinas Augen funkelten lebhaft, ein krasser Gegensatz zu der verstaubten Atmosphäre der Bibliothek. «Was, wenn es wirklich ein realer Ort war – beziehungsweise ist ? Der verlorene Tempel des Achilles, und darin sein Grab. Niemand hat es je gefunden.»
    «Weil sie sich alle nicht einig sind, wo es sein soll. Außerdem, selbst wenn das alles wahr wäre – wer sagt denn, dass dieser magische Schild überhaupt in dem Tempel ist?»
    «Ich denke, dorthin hat Odysseus ihn auf seinem Heimweg nach Ithaka gebracht, als Opfergabe an den toten Heros. Ein so großer Teil seiner Geschichte spielt sich im Schwarzen Meer ab – das ergäbe keinen Sinn, wenn er nicht einen Grund gehabt hätte, dorthin zu segeln.»
    «Ich dachte, die Stürme haben ihn vom Kurs abgebracht.»
    «Kein Sturm kann ein Schiff von Troja bis ins Schwarze Meer treiben. Die Durchquerung der Dardanellen in dieser Richtung war sogar als ausgesprochen schwierig bekannt. Und im Schwarzen Meer angekommen, segelt Odysseus immer weiter nach Osten. Hier, sieh mal.» Sie zog ein weiteres Blatt hervor, eine Liste, deren einzelne Punkte durch Pfeile miteinander verbunden waren. «Das sind die Episoden, in denen es Hinweise darauf gibt, dass sich die Handlung im Schwarzen Meer abspielt. Sie folgen fast alle aufeinander, sodass der Eindruck eines geographischen Zusammenhangs entsteht. Und das Kernstück – der eigentliche Zweck von Odysseus’ Reise dorthin – ist sein Abstieg in die Unterwelt.»
Hast du des Okeanos Flut gequert
Zum öden Gestad, wo Sirenenrufe man hört
Und die Heroen vergangener Tage ehrt,
Dort bei Persephones Reich
Lande dein Schiff sogleich
Wo Pappeln sich wiegen und düst’re Weiden
Hier sollst du aus dem Leben scheiden
Zur selben Stund hinabzusteigen
In die Moderhallen des Todes.
    «Odysseus geht dorthin. In einer Schlucht, wo sich zwei Flüsse vereinen, bringt er ein Opfer dar und öffnet die Pforte zum Hades.» Sie hielt Grant das Buch hin. Auf der aufgeschlagenen Seite befand sich eine entsprechende Abbildung, ein düster wirkender Holzschnitt: Ein Schiff wurde auf einen von Pappeln gesäumten Strand gezogen. Die Baumstämme ragten so gerade und hoch auf, dass sie an die Gitterstäbe eines Käfigs erinnerten. In der Mitte der Seite stürzten zwei weiße Flüsse über die Felshänge eines dunklen Berges hinunter, und an der Stelle, wo sie sich trafen, stand eine winzige Gestalt, verschwindend klein unter den schroffen Klippen. Links davon war ein weißer Widder angebunden, rechts ein schwarzes Mutterschaf, und vor ihm in der Felswand gähnte eine Höhle.
    Trotz der Wärme im Raum überlief Grant ein kalter Schauer. «Willst du sagen, Odysseus ist in die Hölle hinuntergestiegen?»
    «Er hat die Geister der Toten heraufbeschworen. Für die alten Griechen war der Hades kein konkreter Ort, den man körperlich aufsuchen konnte. Der Übertritt dorthin war vielmehr ein spiritueller Prozess, eine Reise der Seele. Sie glaubten, es gebe

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